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Warum wir es nicht auf der Straße tun

1. Sous le pavé: la plage (1967-69: Paris, Berlin)

Mai 1968, Quartier Latin: Unter dem Pflaster liegt der Strand, einen Monat lang. Hunderttausende werden wild, tun schöne Sachen und arbeiten nie.

Unter dem Pflaster liegt der Strand - schon hier beginnen die Mißverständnisse. Viele halten diese Parole schlicht für einen Geistesblitz, für einen schönen Spruch im Tagebuch, für eine Zeile in ihrem neuen Lieblingssong, alles in allem: für Poesie. Strand ist Sommer, also: Sommer der Liebe; Strand ist Sonnenschein, also: Spaß haben und braun werden. (Um braun zu werden, sollten manche ein Vierteljahrhundert brauchen. Bei einigen ging es auch schneller.) La poèsie au pouvoir! - wenn das allein die Geschichte der Neuen Linken wäre, könnte dieser Text hier zu Ende sein.

Es gibt jedoch - in Paris und anderswo - Gruppen, die weniger an Poesie, als vielmehr am Material und dessen Dialektik interessiert sind. Schon bald stellen sie fest: wer das konkrete Pflaster aufreißt, findet darunter einen konkreten Strand. (Wo zuvor die Entfernung von Autos nötig ist, sind Sachschäden nicht immer zu vermeiden.) An diesem Strand, so stellt sich heraus, sind Begegnungen, Gespräche und Aktionen möglich, die auf intakten Bürgersteigen undenkbar gewesen wären.

Ein interessanter Aspekt der Umwandlung von Straße zu Strand, auch das wird bald deutlich, ist das dabei anfallende Nebenprodukt: der Pflasterstein. Überall dort, wo sich am Straßenrand Parkplätze mit vollgetankten Autos und Container mit leergetrunkenen Flaschen befinden, kommt ein zweites Objekt hinzu: der Molotow-Cocktail. (Spätestens von da an versteht der Staat keinen Spaß mehr und sieht sich gezwungen, dem bunten Treiben vorerst ein Ende zu bereiten.)

Ärger gibt es auch in Berlin: Am 2. Juni 1967 stirbt Benno Ohnesorg an Bleivergiftung. Über das weitere Vorgehen herrscht auf Seiten der Studentenbewegung Uneinigkeit: Ist die angemessene Reaktion der Kurze Prozeß mit dem System oder der Lange Marsch durch die Institutionen? John Lennon schreibt an den Genossen Dutschke: "You tell me it's the institution / well you know / you better free your mind instead / 'cause if you go carrying pictures of Chairman Mao / you ain't gonna make it with anyone anyhow..."

Der Lange Marsch ist tatsächlich ein Bild von Chairman Mao. Als Import ist sowas Ende der 60er billig zu haben; ob es sich unter den Bedingungen des Spätkapitalismus als funktionsfähig erweisen würde, steht allerdings in den Sternen.

Mittlerweile ist Daniel Cohn-Bendit mehrmals aus Paris zu Besuch gekommen, um seinen Berliner Kollegen aus dem Quartier Latin zu berichten, und so gibt auch Rudi Dutschke bald die Devise aus, "den Kurfürstendamm in ein fluktuierendes Wasser für die Antiautoritären zu verwandeln" - wieder eines der Bilder von Mao, mit denen man's mit niemandem nirgendwie macht. Schon beim Einsatz von Pflastersteinen gibt es arge Bedenken (in Teilen der Bewegung wird stattdessen allen Ernstes das Werfen von Pudding propagiert), mit dem Abfüllen von Molotow-Cocktails wird sogar solange gezögert, bis dem Verfassungsschutz schließlich nichts anderes mehr übrigbleibt, als sie selbst zur Verfügung zu stellen.

"When you talk about destruction", schreibt John Lennon daraufhin, "don't you know that you can count me..." ... out? ... in? - Lennon kann sich nicht entscheiden, auch Dutschke bleibt lange unentschlossen; im Zweifelsfall halten sie es dann aber doch mit Jesus von Nazareth: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Ein Mittel gegen Bleivergiftung, so sollte es die Geschichte zeigen, hatten sie damit beide nicht gefunden. Die Gewaltfrage jedoch ist immerhin fürs erste beantwortet. Presse, Polizei und Justiz machen Kurzen Prozeß, die Revolution macht sich auf den Langen Marsch.

Die erste gesellschaftliche Institution, in der es sich zu etablieren gelingt, ist die Ehe. Der Lange Marsch ist somit immer auch eine Coverversion von "The Long And Winding Road" - that leads to your door, die direkt zur Geliebten führt: "Eine Revolution für eine Frau zu verraten, ist immer gerechtfertigt" - sagt Rainer Langhans über Uschi Obermaier, die ihm in der Kommune 1 ein Jahr lang den Abwasch gemacht hat (um ihn danach zu verlassen, für ein Leben on the road - das allein war gerechtfertigt). Diejenigen, die ihre Liebsten für die Revolution verraten (z.B. Ulrike Meinhof - ihr Gatte Klaus Rainer Röhl hat sich von der Trennung nie wieder erholt und lebt seitdem in fortschreitender geistiger Umnachtung), sind von Anfang an eine verschwindende Minderheit.

2. Die neue Straßenverkehrsordnung (1970-71: Berlin, Frankfurt, Heidelberg)

Selbst verschwindende Minderheiten jedoch werden hierzulande vom Staat persönlich zum Verschwinden gebracht - wer dem zuvorkommen will, muß die Straße verlassen und sich unsichtbar machen. Der Kampf geht weiter, aber woanders - unter dem Pflaster, unter dem Strand: im Untergrund.

Dieser Untergrund hat seine eigenen Gesetze. Gesammelt und aufgeschrieben werden sie zum ersten Mal von Horst Mahler, der - als Untersuchungshäftling in Sachen RAF - ein "Verkehrsrechts- und Verkehrsaufklärungsheft" mit dem Titel "Die neue Straßenverkehrsordnung" verfaßt. Auch Mahler hat es mit Mao, dessen Worte er seinem Werk als Präambel voranstellt: "Die Geschichte lehrt uns, daß richtige politische und militärische Linien nicht spontan und friedlich, sondern im Kampf entstehen."

Für diesen Kampf ist bereits das "Konzept Stadtguerilla" entwickelt worden (Eingangszitat: "Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!" - Mao), das mit der Parole "Sieg im Volkskrieg!" endet und auch an anderen Stellen seine Mängel vor allem einem falschverstandenen Internationalismus verdankt, der darin besteht, Widerstandsmodelle aus den Befreiungskriegen der Dritten Welt unter völliger Nichtbeachtung der hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Bundesrepublik anzuwenden.

Als die "Neue Straßenverkehrsordnung" im linken Buchhandel erscheint, ist ihr Titel geändert in: "Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa". Eine brauchbare theoretische oder praktische Kritik des Straßenverkehrs bleibt aus. Das Auto, so zeigt sich, taugt zur Autobombe - wozu die Autobombe taugt, bleibt offen.

3. Highway to hell: A33/A77 (1972-77: Köln, Bonn, Stammheim)

Von der faschistischen West-Ost-Autobahn ist die demokratisierte Nord-Süd-Autobahn nur ein Kamener Kreuz weit entfernt. Dieses Kamener Kreuz bildet das politische Koordinatensystem für ein Volk ohne Raum, das sein aufgestautes Verlangen nicht anders als auf Schnellstraßen entladen kann. Hier kreuzen sich die Totale Autobahn (A33) und Reformautobahn (A77), beide funktionieren gleichzeitig als road to nowhere und highway to hell.

10 Monate nach Fertigstellung der "Neuen Straßenverkehrsordnung" werden am 31. Mai 1972 unter Einsatz aller verfügbaren Hubschrauber des öffentlichen Dienstes sämtliche bundesdeutschen Autobahnen von der Polizei gesperrt. Die symbolische Bedeutung dieser - in der Geschichte der BRD absolut einmaligen - Fahndungsaktion kann nur ermessen, wer sich vor Augen führt, welch zentrale Funktion die Deutsche Autobahn im politischen System der Bundesrepublik erfüllt: sie dient der Kanalisierung von Massenbedürfnissen, auf ihr findet die Kompensation von Arbeit und Alltag statt - in Form sommerlicher Triebabfuhr Richtung Südeuropa wie mittels Adrenalinzufuhr im täglichen Überlebenskampf auf der Überholspur. In letzterem Sinne ist auf der Autobahn die Idee vom Notstand als Dauerzustand bereits verwirklicht, indirekt funktioniert sie sogar als ein Instrument der Bevölkerungspolitik.

Wenn bundesweit die Autobahnen gesperrt werden (wie später, zu Zeiten der Ölkrise, am "Autofreien Sonntag"), dann geht es ums Ganze. Die Bildung einer terroristischen Vereinigung, so signalisiert der Staatsschutz dem Verkehrsaufklärer Mahler, ist tatsächlich zugleich ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und wird mit entsprechenden Mitteln beantwortet.

Andreas Baader und Jan-Carl Raspe werden am folgenden Tag in Frankfurt aus dem Verkehr gezogen (wobei die Verhaftung bezeichnenderweise in einer Garage stattfindet), Gudrun Ensslin eine Woche später in Hamburg.

Ihre Haft endet in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977. Inhaftiert bleibt allein Irmgard Möller, die zwischen dem 7. Juli 1972 und dem 1. Dezember 1994 zweiundzwanzigeinhalb Jahre lang nicht auf der Straße gewesen ist.

4. Unten auf dem Bürgersteig, an die Regierung denken (1978-82: Mailand, Berlin, Amsterdam)

Stammheim und Sex Pistols gehören zusammen, Sozialdemokratie und Sicherheitsnadeln gehören zusammen, Hippiehegemonie und no future gehören zusammen - Ende der 70er Jahre gibt es auf einmal eine ganze Menge zu begreifen. Auch der Strand gerät wieder ins Blickfeld: während ihn die Stadtindianer von Mailand (und Bologna und Turin usw.) noch immer mitten in den Metropolen vermuten, liegt er für einen Teil ihrer Berliner Kollegen längst ganz woanders: "Wir hauen alle ab - zum Strand von Tunix!" - heißt für kurze Zeit die Parole. Viel mehr als ein Badeurlaub ist nicht dabei herausgekommen.

Zwei Jahre später gibt es dann doch wieder Ärger in Berlin: Spätestens Ende 1980 wird deutlich, daß sich eine neue Bewegung zur Verwandlung von Straßen in Ströme und Strände konstituiert hat, deren militanter Teil sogar daran arbeitet, mittels nächtlicher Entglasung ganzer Stadtviertel die Grenze von öffentlichem und privatem Raum zum Verschwimmen und damit die Eigentumsverhältnisse zum Fließen zu bringen.

Auch der Straßenverkehr wird gefährlicher. Am 22. September 1981 wird der Hausbesetzer Jürgen Rattey von einem Linienbus der BVG überfahren; die Polizeihundertschaften, von denen er auf die Straße getrieben worden war, können bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des Demonstranten feststellen. Die Sicherheitskräfte versetzt das in helle Aufregung, hatte es doch schon 1970 - als kein Toter, sondern nur eine Fahrpreiserhöhung zu beklagen war - geheißen: "Nee, nee, nee: eher brennt die BVG!" Diesmal fliegen tatsächlich Molotow-Cocktails, was nach Tagen noch brennt, sind aber bloß die Kerzen am Unglücksort: there is a light that never goes out. (Unter diesem Titel wird ein paar Jahre später in Manchester der öffentliche Personennahverkehr privatisiert: "And if the doubledecker bus / crashes into us / to die by your side / is such a heavenly way to die" - das ist die Platte, die Jürgen Rattey sich vermutlich nicht gekauft hätte.)

Ein zentraler Aspekt von Straße ist, daß man auf ihr nicht wohnen kann, sondern gezwungen ist, in Bewegung zu bleiben. Die Besetzerbewegung der 80er Jahre hat zwar die zu erobernde Straße noch im Blick, im Ernstfall jedoch das zu verteidigende Haus vor Augen; sie bewegt sich somit von Anfang an stets an einem Widerspruch entlang: Das Rein in die besetzten Häuser ist immer ein Runter von der Straße. So hat sie vor allem zur Einrichtung von Nischen und Schutzzonen geführt, die zwar ein komplexes Milieu hervorgebracht haben, von der Außenwelt jedoch weitgehend abgeschnitten sind. (Wer diese Niederlage auf der Ebene des Symbolischen bedauert, muß sich allerdings die Veränderungen des konkreten politischen Feldes vor Augen führen, auf dem sie sich ereignet hat: daß man auf der Straße nicht wohnen kann, ist für immer mehr Leute nicht mehr eine abstrakte Verheißung, sondern ein existentielles Problem.)

Auch außerhalb der eigenen vier Wände geht es nicht gerade voran: Die Rote Flut ist zum Schwarzen Block geronnen, der nach außen Entschlossenheit demonstriert, im Innern des Polizeikessels jedoch seine Ab- und Eingeschlossenheit inszeniert. Die Demonstrationen der 80er/90er erwecken zunehmend den Eindruck, es handle sich längst um Trauerzüge durch die Ruinen des Sozialen.

Was sich die Besetzerbewegung im sozialen Raum erkämpft hat, ist bestenfalls ein Fensterplatz (Fenster sind in diesem Zusammenhang alle technischen Vorrichtungen, durch die man die Straße zwar sehen, im Unterschied zur Tür aber nicht betreten kann - insbesondere natürlich der Fernseher), an dem jeder gewonnene Überblick einem verlorenen Einfluß entspricht.

It's better to burn out than to fade away: Was macht eine Bewegung nach ihrem eigenen Ende? Der Kampf geht weiter (muß er auch), die Geschichte geht weiter (tut sie sowieso); die Szene, indem sie sich selbst als Ghetto inszeniert (also aktiv die eigene Marginalisierung vorantreibt, um aus der verfahrenen Situation zumindest noch sowas wie einen ästhetischen Mehrwert zu gewinnen: my hood is my castle) und so ihr eigenes Scheitern stets von neuem wiederholt, kommt auf diesem Wege zu sich selbst: Kreisverkehr.

Die einzige Alternative wäre das Verschwinden: spurlos von der Bildfläche und unter der Kontinuität der Geschichte hinweg. Ein kleiner Teil der Bewegung entscheidet sich für diesen Tunnel: dort wartet weder Strand noch Untergrund, bloß Dunkelheit, plus die vage Hoffnung, am Ende wieder ans Licht zu kommen. Tatsächlich taucht die Bewegungslehre, Jahre später, als Medientheorie wieder auf - und mit ihr eine erste Ahnung, wo die verlorene Straße wiederzufinden wäre.

5. Der lange und gewundene Marsch (1983-87: Gorleben, Wackersdorf, Tschernobyl)

Derweil mündet ein anderer Strom in den Mainstream: Der Lange Marsch biegt in die Hauptstraße der Geschichte ein.

Mittlerweile ist er zu einer regelrechten Prozession angewachsen: Allen voran die mittlerweile beamteten Berufsrevolutionäre, dahinter die Friedens- und die Ökologiebewegung, gefolgt von den Veteranen der Ostermärsche (die sowieso überallhin mitmarschieren, wo es nichts zu gewinnen gibt), hintendran noch ein paar versprengte soziale Bewegungen, denen es auf den Nebenstraßen zu kalt in Deutschland geworden ist und die sich vom Einzug in die Institutionen vor allem ein wenig Nestwärme versprechen.

1983 ziehen die Grünen in den Bundestag und die ökologischen Katastrophen ins Bewußtsein der bundesdeutschen Bevölkerung ein. Von jetzt an heißt die revolutionäre Parole: Hoch die internationale Solidarität mit meinem Freund, dem Baum! Auch im Fall der Ökologiebewegung haben wir es wieder mit einem Mißverständnis in Sachen Internationalismus zu tun: Eine Politik des Verzichts im Angesicht einer drohenden globalen Katastrophe bedeutet nicht das Ende nationalen imperialistischen Interesses, sondern dessen Renaissance. Irgendwie wird man es den Entwicklungsländern schließlich erklären müssen, daß es nichts wird mit ihrer Entwicklung, daß es nicht ihre, sondern unsere Kinder sind, von denen wir diese Welt nur geliehen haben.

Wer zum Schutz der Umwelt vor Straßen und Kraftwerken nächtelang im Freien campiert und sich sogar an Bäume kettet, demonstriert allein seine Verbundenheit mit der heimischen Vegetation. Wer Straßen blockiert, um ihre Beruhigung oder Begrünung zu fordern, der sorgt sich um seine individuellen Lebensumstände - was verständlich und gerechtfertigt ist - und nicht um die Zukunft der Menschheit. (Nach dem Atomunfall in Tschernobyl traut sich kaum jemand auf die Straße: sicher ist sicher.)

All das, was an der Ökologiebewegung unerträglich war und ist - insbesondere an den kulturellen Werten (Musik, Kleidung, Umgangsformen), die in ihrem Verlauf ja auch noch entstanden sind - läßt sich letztlich auf den Umstand zurückführen, daß sie Straße und Strand stets als sich ausschließende Gegensätze aufgefaßt hat. Insbesondere die Grünen waren von Anfang an eine off-road-Bewegung: für sie liegt der Strand am Straßenrand.

Schon das Haus steht ja nicht, wie es mal behauptet wurde, mitten auf der Straße, sondern hübsch an der Seite, macht brav Platz für das, was sich bewegt. Der Baum steht noch dahinter: im Garten, oder, noch weiter weg: im Wald.

"Wir haben sie so geliebt, die Revolution" - sagt Daniel Cohn-Bendit. Wir sind ihr überallhin hinterhergefahren, leider wollte sie nichts von uns wissen, irgendwie müssen wir sie dann aus den Augen verloren haben, und auch die Straße konnte man vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Schließlich kommt man nicht mehr weiter und hält den Wagen an.

Long and winding road: Wir fahren rechts ran.

6. Mein Kumpel ist brandgefährlich (1988: Gladbeck, Bremen, Köln)

Es folgen 2 Tage im Sommer 1988, die zwar nicht die Welt verändern, aber doch auf den Punkt bringen, wie sie sich zu verändern gerade im Begriff ist.

Die Hauptdarsteller Rösner/Degowski sind nicht Teil einer kollektiven sozialen Bewegung, sondern Einzelkämpfer für individuelle soziale Mobilität: viel Geld, ein schnelles Auto, schöne Frauen. Hier liefert nicht Mao Tse Tung die Stichworte, sondern Andy Warhol: Jeder kann ein Star sein, für 15 Minuten.

Die Polizei spielt über weite Strecken eine bloße Statistenrolle: Am Morgen des 1. Tages, in Gladbeck, hat sie Situation noch weitgehend unter Kontrolle, am Nachmittag entgleitet sie ihr: Rösner/Degowski erreichen Bremen und hijacken dort einen Linienbus, den Rösner mehrmals verläßt, um den versammelten Fernsehteams Rede und Antwort zu stehen: als Gangsterdarsteller in der Deutschlandpremiere von Reality TV. Nachdem es auf einem Autobahnrastplatz den ersten Toten gegeben hat, steuern Rösner/Degowski auf die holländische Grenze zu; auf dem Weg dorthin ordnen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse neu: Vorneweg das Soziale, ihm an den Fersen die Medien, hintendran der Staat.

Am nächsten Morgen ein ähnliches Bild: Rösner/Degowski parken - mittlerweile auf BMW umgestiegen und nur noch in Begleitung zweier junger Frauen aus dem Bremer Bus - mitten in der Kölner Innenstadt, wo sich binnen Minuten um den Wagen herum ein Pulk von Reportern, Fotografen und Kamerateams bildet. Der Polizei bleibt nichts als: zuzuschauen - wie Millionen vor dem Fernseher. (Am Nachmittag ist dann alles vorbei: Silke Bischoff stirbt auf der Autobahn, der Rest ist Geschichte.)

Wer das "Gladbecker Geiseldrama" als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Deregulierung, der schwindenden Einflußmöglichkeit direkter staatlicher Eingriffe und der fortschreitenden Privatisierung des öffentlichen Raums begreift, kann Ähnliches zur selben Zeit auch auf anderen Territorien beobachten: Die ersten Einkaufspassagen, Fußgängerzonen und Villenviertel fallen an die privaten Sicherheitsdienste, parallel dazu wird an strategisch wichtigen Punkten mit der Installation von Kameras begonnen. Jede Bedrohung wird fortan aufgezeichnet, und bedrohlich ist schlichtweg alles, was sich bewegt. Jede Ansammlung und Gedränge, vor allem: die Punks, die Migranten, die Obdachlosen, die Junkies...

Wo in der Straße keine Utopie mehr wohnt, zieht die Gefahr ein: "Auch Du kannst im Straßenverkehr täglich ein Leben retten: Dein eigenes."

7. Freie Fahrt für freie Bürger (1989-94: Berlin, Dresden, Hoyerswerda, Hünxe, Magdeburg, Mannheim, Mölln, Rostock, Solingen, Berlin)

Am Abend des 9. November 1989 beendet eine das Reiserecht der DDR-Bevölkerung betreffende Verkehrsverordnung die Nachkriegszeit.

Das deutsche Straßennetz wächst zusammen: Kaum ist die Mauer beseitigt, wird mit dem Wiederaufbau der vom Sozialismus unterbrochenen West-Ost-Autobahnen begonnen. Wohin sie führen, zeigt sich in Rostock oder Magdeburg, woher sie kommen in Mannheim oder Mölln. Same old story: Ein Volk sein, keinen Raum haben, auf die Straße gehen. Freie Fahrt für die Einen, für die Anderen: highway to hell.

Ein brauchbare Analyse des Zusammenhangs von deutscher Normalität, faschistischer Besetzung von Straße und medialem Hype ist hierzulande von niemandem zu erwarten. Die Meisten begreifen rechte wie linke Militanz schlicht als Ausdruck des Phänomens "Gewalt", das weniger die konkret von ihr Betroffenen bedroht, als vielmehr ihre eigene Innere Sicherheit.

Andere blicken zurück und beklagen, die Straße sei an die Rechten gefallen. Auch das ist ausgemachter Quatsch: Straße in ihrem Normalzustand ist immer "rechts". Es ist kein Zufall, daß die einzige Partei, die sich hierzulande explizit auf Verkehrsregeln beruft, die der Republikaner ist, der es im 94er Wahlkampf genügte, ein wörtliches Zitat aus der geltenden Straßenverkehrsordnung, die Vorfahrtsregelung an unbeschilderten Kreuzungen betreffend, zu plakatieren.

Daß allerdings der Linken die Straße immer mehr abhanden kommt, ist nicht zu übersehen. Den Verlust symbolischen Kapitals illustrieren am deutlichsten gerade die besonders subtilen Beispiele: Angesichts eines rechten Street-Mythos, so schreibt es Klaus Walter in die Spex 12/93 hinein, funktioniere "'Straße nicht mehr als 'Pflaster unterm Strand'" - das ist mehr als ein bloßer Fauxpas.

Der Mai 68 war der Versuch, unter dem Pflaster den Strand zu rekonstruieren. Wer stattdessen, und sei es aus reiner Nachlässigkeit, das genaue Gegenteil behauptet, bestätigt nicht nur jene, die die 68er für dümmer halten, als sie es sowieso schon waren, sondern demonstriert vor allem, wie die zentrale Parole einer Bewegung im Laufe von 25 Jahren jede Bedeutung verliert und schließlich in beliebig austauschbare Einzelteile zerfällt.

Geschichte aber wird in jedem Fall gemacht. Wenn seit dem Fall der Mauer hierzulande an irgendwen die Straße fällt, dann an die Doofen, und mit ihnen letztlich an den Staat. Für den sind nämlich nicht mehr die Minderheiten, sondern längst die Massen Feuer und Flamme. Während 1989 anläßlich der Feierlichkeiten zum Ende des DDR-Ausreiserechts Hunderttausende spontan zur Dekoration des öffentlichen Raums mit Kerzen ausrückten und 1992 immerhin noch jeder frei entscheiden durfte, ob er sich an den Lichterketten beteiligen oder den besinnlichen Abschied vom BRD-Einreiserecht lieber in der Tagesschau verfolgen wollte, so müssen 1994 beim Großen Zapfenstreich für 2 mal 45 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte die Normalbürger leider draußen (heißt hier: zu Hause) bleiben.

Hier geht es nämlich wieder einmal ums Ganze: um die Verkehrshoheit an sich. Mit der Verabschiedung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ist die Zeit reif für den Wiederaufbau einst aus guten Gründen demontierter Geschichte, für den Wiederanschluß der nationalen Symbolproduktion an das Deutschland vor dem 8. Mai 1945.

Nachdem 1989 das Singen der Nationalhymne anläßlich der Wiedervereinigung von Helmut Kohl und Willy Brandt durch Pfiffe gestört und 1992 die Würde des Menschen Richard von Weizsäcker durch Eier angetastet worden war, ist 1994 beim Fackelzug durchs Brandenburger Tor das größte Polizeiaufgebot seit dem Fall der Mauer im Einsatz. Die antinationale Bewegung kommt vor dem Fernseher zum Stillstand. Unter dem Pflaster liegen wir am Strand.

8. Fahren fahren fahren auf der Datenautobahn (1995f: On the road to Nirvana)

Auf dem Fernsehschirm erscheinen die ersten Bilder aus dem 21. Jahrhundert: Kurt Cobain stirbt auf MTV, O.J. Simpson wird auf der Datenautobahn verhaftet.

Der Tod von Kurt Cobain bedeutet vermutlich nicht viel mehr als das Ende von Nirvana, die Verhaftung O.J. Simpsons dagegen steht für mehr: sie markiert das Ende des road movie. Hier hat sich endgültig die Perspektive verändert, unter der Straße wahrgenommen wird: Da ist keine long and winding road mehr, die von den eigenen Füßen aus bis an den Horizont, ins Nichts oder sonstwohin führt (und die am Ende eine, wenn auch verzweigte, so doch lineare Geschichte ergibt), sondern nur noch ein aus der Hubschrauberperspektive betrachtetes Netz, in dem das, was sich bewegt, nicht mehr nach seinem sozialen Sinn beurteilt wird, sondern allein nach seinem binären Informationsgehalt: Thema/kein Thema, Gefahr/keine Gefahr (und das ist das Ende der Geschichte, wie wir sie kannten: von da an ist alles instant history, Geschichte, die sich nicht mehr verfolgen, erzählen und erklären läßt, die nur noch passiert).

Genauso wie Fotos und Kinobilder nicht nur einen virtuellen Raum geöffnet, sondern sich in die reale Wahrnehmung der realen Realität eingeschrieben haben, wird auch die Fernsehperspektive zu einer scheinbar "natürlichen" Weltanschauung. So ist es kein Wunder, daß die reale Straße zunehmend Paranoia produziert.

Dieser Prozeß macht auch vor denen nicht halt, die noch 25 Jahre zuvor gerade die wilden Seiten der Straße gefeiert und zum Raum für die Verwirklichung gesellschaftlicher (oder sonstwelcher) Utopien erklärt hatten. Lou Reed, 1989 zur Sicherheit im Straßenverkehr befragt, antwortet: "There's a rampaging rage rising up like a plague / of bloody vials washing up on the beach... / A junkie ran down a lady a pregnant dancer / she'll never dance but the baby was saved / he shot up some China White and nodded out at the wheel / and he doesn't remember a thing" - In der deutschen Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger liest sich das so: "Der molekulare Bürgerkrieg beginnt unmerklich, ohne allgemeine Mobilmachung. Allmählich mehrt sich der Müll am Straßenrand. Im Park häufen sich Spritzen und zerbrochene Bierflaschen. An den Wänden tauchen überall Graffiti auf."

Hier spricht das Globale Dorftrotteltum, das soviel reality im Fernsehen gesehen hat, daß es S-Bahn-Surfen, Taschendiebstahl, Bürgerkrieg, Drogenszene und Umweltverschmutzung nicht mehr auseinanderzuhalten vermag und alles als Symptom einer diffusen Bedrohung liest, die von innen wie außen, schlicht von überall kommt. Dann bleibt man am besten zu Hause und hält Fenster und Türen fest geschlossen.

Auf dem Fernsehschirm erscheinen die ersten Bilder aus dem 21. Jahrhundert: In der Zukunft, so heißt es, wird das öffentliche Leben nicht mehr auf offener Straße, sondern in geschlossenen Netzen stattfinden, in denen sämtliche Wege, die bisher nach draußen führten (in den Supermarkt, ins Café, ins Kino, ins Konzert) gebündelt sind.

Einen sozialen Raum hatte schon das konkrete Straßennetz nie wirklich gebildet. Seit es zum Objekt der modernen Stadtplanung wurde, entwickelte es sich zum Terrain diverser Techniken sozialer Kontrolle, von der Aufstandsbekämpfung bis zur Verkehrssteuerung. Das unkontrollierte Soziale hatte aber immer noch die Möglichkeit, auf ihr aufzutauchen: als Unfall, als Verkehrsstörung, als unvorhergesehene Begegnung auf dem Bürgersteig - auch das ausgefeilteste Verkehrsleitsystem kann derartige Zwischenfälle nicht verhindern.

Der information highway hingegen orientiert sich - schon im Namen - am Modell der Schnellstraße: Er führt auf dem kürzesten Weg von a nach b, ohne Kreuzungen, Umwege oder Umleitungen, in denen sich das Soziale einnisten könnte; als Lebensraum ist er damit so attraktiv wie eine Autobahn. (Wenn nicht die Hacker-Guerilla kommt und ihn bewohnbar macht.)

Auch wenn fortwährend das Zeitalter der unbegrenzten Interaktivität beschworen wird: Die Datenautobahn ist von vornherein als Einbahnstraße geplant, die auf dem heimischen Bildschirm nicht beginnt, sondern bloß mündet. Natürlich sind auch Auffahrten vorgesehen, doch von dort aus lassen sich bestenfalls Vergnügungstouren unternehmen: Wir fahren uns den Quelle-Katalog, fahren uns 3 Wochen Urlaub in 20 Minuten - von der Geschichte aber, deren Subjekt wir immerhin mal waren, werden wir überfahren.

So kommt die Straße ins Zimmer - doch dabei bleibt es nicht. Die multimedialen Kommunikationsmaschinen des 21. Jahrhunderts sind, wie schon ihre Vorgänger, keine bloßen Möbelstücke, sondern echte Körperteile: Der Bildschirm wird zur Netzhaut, der Lautsprecher zum Trommelfell, der Datenhighway mündet direkt ins zentrale Nervensystem. Fahren, fahren, fahren (auf der Infobahn): Wir haben die Straße im Kopf.

9. Warum wir es nicht auf der Straße tun (rewind & fast forward: Wie alles anfing & Wo soll das alles enden)

Why don't we do it in the road? fragten 1968 die Beatles. Wonach sie da fragten, hat kaum jemand verstanden (und sie selbst vielleicht am allerwenigsten). Die Rezeptionsgeschichte dieses Songs ist die Geschichte eines großen Mißverständnisses: Noch heute herrscht allenthalben die Überzeugung, es ginge in dem Stück um Sex.

Daß das völliger Unsinn ist, liegt auf der Hand: Wäre eine long and winding Liebesstraße gemeint, würde sich die Frage von selbst beantworten: Why don't we do it in the road / that leads to your door? Weil man die Tür zumacht, bevor man Liebe macht, und zwar von innen. Und wieso sollte man den Geschlechtsverkehr auf der Straße austragen, wenn dort - wie es in der zweiten Zeile heißt - sowieso niemand zusieht?

Spätestens mit der zweiten Zeile hätte der Groschen fallen müssen: "No-one will be watching us" heißt: we will not be televised - und not be televised wird bekanntlich: revolution. Also: Warum gehen wir nicht raus auf die Straße und machen die Revolution - statt Frieden und Liebe?

Why don't we do it in the road? ist nichts anderes als die Frage nach dem Ort des Sozialen und dessen Revolutionierung, fragt nicht nach Sex, sondern nach Kommunikation (was natürlich auch Sex sein kann, aber das ist nur eine Möglichkeit von vielen), fragt: Sollten wir dem Staat seine öffentlichen Räume nicht lieber entreißen, bevor er sie privatisiert? (Und wie können wir sie verteidigen, ohne sie selbst in Privatsphären zu verwandeln?)

Stattdessen totales Mißverständnis. Hier kommt die Revolution! sagt die Platte - Ich will ficken! verstehen die Millionen. "Was interessiert mich die Revolution, wenn ich Orgasmusschwierigkeiten habe!" - meint so auch Dieter Kunzelmann, nachdem er das Stück zum ersten Mal gehört hat. Statt das Private zu politisieren und auf die Straße zu tragen, privatisieren Tausende revolutionärer Beatlesfans das Politische, bis es am Ende in die eigenen vier Wände paßt.

Wenn die Revolution - was auch immer das gewesen wäre - nicht stattgefunden hat, dann, weil zu viele dem Irrtum aufgesessen sind, sie beginne, statt auf der Straße, im Bett. Dort ist sie allemal zu Ende. Im Bett beginnt bestenfalls die Revolution des Sexuellen, an deren Ende doch wieder alle zu Paaren zusammenklumpen, um zu dem Schluß zu kommen, für eine glückliche Familie sei schlechthin jeder Verrat gerechtfertigt - eine Revolution, die ihre Kinder, statt zu fressen, liebevoll umsorgt und sicher über die Straße bringt. (Und auf dieser Straße tun wir's bestimmt nicht, denn dort ist immer jemand watching us: Big Mother und Big Brother, n-tv und MTV)

Alles weitere hat man daheim auf dem Plattenspieler liegen, dort dreht sich ein Vierteljahrhundert gemachter Geschichte bei konstanter Geschwindigkeit um sich selbst: Am Ende dieser Straßen, durch die wir irren, wartet nichts als Tiefschlaf, vor meinem Fenster fängt es an sich zu bewegen, irgendwie geht's dann doch raus aus den vier Wänden, aber in den Straßen liegt der Staat und sagt: wärst du doch bloß im Bett geblieben, und ich will noch mehr Ruhe, und will vorbei und kleines Hotel, und der Mond scheint in dieses Zimmer.