________________________________________________________________________________ Jungle World 50/2000 Subjekt X zu Objekt Y Frieda Grafe und Enno Patalas: Das Schreiben über Film als Versuch umzuwerfen, was es heißt, Film zu verstehen. Von Harun Farocki Für Texte über Film wird etwa so bezahlt wie für Gedichte. Man wird dem Filmkritiker, Filmschriftsteller, kaum je vorwerfen können, er mäste sich am Leibe, sauge das Blut des armen Filmregisseurs. Bei der Literatur gibt es das, dass der arme Dichter unter der Brücke verreckt, während die Literaturprofessoren im Bratenrock von seinen Zeilen wohlleben. Auch da gilt, dass der Primärtexterzeuger mehr gilt als der Sekundärtexterzeuger. Die ganze Sache mit primär und sekundär ist unhaltbar, und schon das gibt dieser Auszeichnung (Verleihung des »o1-Award« an Frieda Grafe und Enno Patalas; d. Red.) eine Wichtigkeit. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung hat eine unhaltbare Vorstellung von Handlung und Verursachung zur Grundlage. Das wurde schon im 19. Jahrhundert verworfen, vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Relativität und Unschärfe. Schon da wurde kritisiert, dass die Syntax der Wortsprache die falsche Idee der Verursachung einschreibt, und so wird fast immer das Ausdruckssystem Film zur Anwendung gebracht. Statt X Subjekt von Y Objekt muss ein Ausdruck gefunden werden wie: X in Beziehung zu Y. Dazu könnte der Film beitragen und ich glaube, bei Frieda Grafe und Enno Patalas lesen gelernt zu haben, gelernt zu haben, in Filmen dieses Potenzial zu entdecken, gerade gegen die Hauptrichtung. Vor zwei Jahren habe ich einen kurzen Film gesehen, den ein Regisseur, Chris Petit, über einen Kritiker, Manny Farber, gemacht hat. Wie Frieda Grafe ist Farber keine Institution, kein Kritiker, der ein Zahlpublikum mitschafft und auch keiner, der symbolische Münze prägt und ausgibt. Und in diesem Sommer sah ich einen langen Film, den Edgardo Cozarinski über Henri Langlois gemacht hat. Langlois sammelte Filme und führte sie vor, er programmierte, wie Enno Patalas. Es müsste eigentlich selbstverständlich sein, Filme aufzubewahren, ohne antiquarisch zu sein, und auch, Filme zu rekonstruieren, wie man das bei den Texten von Schriftstellern tut. Am Ende dieses Films über Langlois gibt es eine Überraschung, auf einmal wird ein Film von Rosebud gesucht und gefunden. Langlois sagt, er habe als Kind etwas verloren, als Smyrna an die Türken fiel und niederbrannte und die Familie nach Frankreich zog. Das habe er mit dem Filmesammeln und Filmeretten ausgleichen wollen. Das erscheint nicht unschlüssig, weil mit den Bildern vom Untergang des griechischen Smyrna eine unangemessen süße Wehmut aufsteigt. Das kann Lust machen, nach anderen Bildern von anderen Verlusten zu suchen, bei denen einem ewig wird, was verloren ist, besonders, wenn man es nie gehabt hat. Der Kinefilm ist ein besonders schöner Verlustgegenstand. Schon die neue Kopie hat feine Kratzer, wenn man sie zur Vorführung gebracht hat, zuvor hat schon das Negativ gelitten, als man eine Kopie davon zog. Man kommt zur Erhaltung um ein Umkopieren nicht herum. Aber wie die Lebenserinnerung ist die Bedeutungsschicht des Films an den Träger gebunden, der Transfer geht nicht ohne Verlust ab. Das gilt auch für das Schreiben über Film. Die Arbeit von Frieda Grafe wie von Enno Patalas wäre ein Movie wert, und beider Arbeit ist, wie bei interessanten Büchern, eigentlich nicht in eine Bilderfolge zu bringen. 1968 hat Frieda Grafe in einem kleinen Gegenmanifest zu mir ausgeführt, dass die russischen Linguisten die wirkliche geistige Revolution angestoßen hätten. Die Formalisten waren die einzige neue Denkrichtung, die der Kommunismus hervorbrachte. Untersuchungen zur Produktivkraft der Sprache / des Denkens, das ist noch immer eine Inspiration für das Kino-Denken. Bachtin und andere wie Eichenbaum, Jakobson, Lotman, Propp, Tynjanov oder Sklovskij. Ihr Parallel-Umsturz-Versuch bestand darin, dass sie die Sprache sozialisieren wollten. So wie Marx ausführte, das Kapital nehme die Menschen in seinen Dienst, die Ausgebeuteten wie die Ausbeuter, so ist von den russischen Früh- oder Vorstrukturalisten herzuleiten, dass die Sprache die Texte produziert und die Autoren dazu in Dienst nimmt. Das ist nichts, was man ein für alle Male versteht, es erfordert permanente Umwälzung. Patalas hat einmal eine Sozialgeschichte der Stars geschrieben, die man vergegenwärtigen sollte, aber hauptsächlich haben Grafe und Patalas zu so genannten Autorenfilmern geschrieben und solche Filme programmiert. Es kommt darauf an, gerade in diesem Gegensatz die Aufhebung des geistigen Eigentums aufzufassen. An den Texten von Frieda Grafe ist zu erfahren, wie sie einen Film weder symptomatisch liest, was eine Art von Filmsoziologie wäre, noch als Besitztitel bewertet, als Investition ansagt oder absagt, was der geläufige höfische Filmklatsch wäre. In ihren Texten erscheint der Film für sich und sie setzt ihn nicht gegen das sonst Übliche ab, wie ich etwa gerade ihr Schreiben. Ich setze das jetzt fort und komme auf einen Völkerkundler in dem Roman »Gorki-Park« von Martin Cruz Smith. Er rekonstruiert aus Skelettfunden Menschenfiguren. Am Ende seiner Dienstzeit stellt sich heraus, dass alle Figuren ihm selbst gleichen. Sein Nachfolger ist ein Zwerg, der sich selbst Werktreue zuschreibt, weil er keinen Leib hat, der sich als Vorbild aufdrängen könnte, reiner Geist. Es kommt bei dieser Erzählung darauf an, weder der eine noch der andere zu sein. Während Adorno, der Enno Patalas als Schüler reklamierte, schrieb, in den meisten Fällen sei es schon eine Anmaßung, »Ich« zu sagen, besteht heute meistenfalls die Anmaßung darin, von sich zu sagen, man sei ein »Nicht-Ich«. Die kommunistischen Parteien waren zu buchgläubig, um die Formalisten ertragen zu können. Foucault erzählt in einem Interview, noch in den achtziger Jahren sei es in Ungarn verboten gewesen, über drei Sachen zu reden: über Hitler, über Horthy und über den Strukturalismus, weil der auf die Formalisten zurückgehe - einen Feind, geboren im eigenen Lager. In Frankreich, wo die Kommunistische Partei kaum Macht ausübte - außer auf Intellektuelle, nicht nur auf Sartre, auch auf Duras -, kam es um 1970 zur Proklamation einer Filmlinguistik. Das war ein verspäteter roter Zug, auf den Frieda Grafe und Enno Patalas nicht aufspringen wollten. In Deutschland, wo sich die Intellektuellen die Kommunistische Partei zur Selbstkasteiung eigens erfinden mussten, wurde oft die Brechtsche Radiotheorie zitiert, nach der alle Empfänger Sender werden sollten. Frieda Grafe schrieb, ein intelligenter Film schließe den Zuschauer ein, beim Empfang. Das traf. Ich dachte an einen Lehrstoff: ob das Licht sich mit Wellen oder Partikeln fortpflanze. In der Schule lernt man, weder Newton noch Huygens hätten Recht gehabt, man müsse sich etwas zwischen den beiden Denkmodellen vorstellen oder jenseits davon. Weder die Bachtin-Revolution noch die von Lenin ist bisher groß ins Kino gekommen. Der Film hat die Revolution nicht dargestellt, aber die Revolution hat sich im Film dargestellt, vor allem: als ausgebliebene. Von der Revolution wieder zurück zur Schulbank: Als Frieda Grafe und Enno Patalas zur Schule gingen, gab es in den meisten Regionen nur einen Rundfunksender und nach den Wasserstandsmeldungen gegen Mittag eine Sendepause bis zum Schulfunk. Es galt als Sünde, bei Radiomusik Schularbeiten zu machen. Ein paar Jahre später, in meiner Schulzeit, gab es schon Erhebungen, dass klassische Musik die Aufmerksamkeit nur zu 40 Prozent binde, andere Musik aber zu sechzig. Für Grafe und Patalas kamen die Texte vor den Kinobildern. Vor den Kinobildern kam auch nicht die andere Musik, eine, die nicht nur die Schularbeiten erschwert, sondern die Hirnchemie verändert hat. Die Kinobilder mussten aus Frankreich kommen. Man kann erzählen, dass aus dem Stockwerk über der Studierstube von Grafe oder Patalas das Holzbein eines Kriegsheimkehrers zu hören war; aber für dieses Genre passt besser, die Gegenwart von Nazizeit und Krieg damit zu bezeichnen, dass die Filme von Murnau oder Pabst oder Lang nach Frankreich geflüchtet oder dahin vertrieben waren. Aus Frankreich kommt das Modell der Kinemathek und das der Filmzeitschrift. Auch dass ein Philosoph selbstverständlich das Kino kennen muss, kommt von daher. Im Deutschland der Zwanziger gab es die Verbindung von Avantgardekunst und Kino, Ruttmann oder Brecht, es schien eine Intelligenz neuen Typs zu entstehen. Kracauer war ein sehr früher Poptheoretiker. Dass das nach dem Krieg weg war, lag wohl nicht nur am Nazitum. Freud hat an den Träumen die Bilder nicht gelten lassen, sie mussten in Sprache übersetzt werden, galten nicht einmal als beschriebene Bilder. Adorno schrieb, am Kino störten ihn nur die Bilder. Er hörte in der populären Kultur die Unterwerfung unter Unterdrückung und Verdinglichung, was man nicht einfach beiseite wischen kann. Heute kann man sagen, dass die Pop-Revolution so unumkehrbare Folgen hatte wie die Französische. Auch die Geheimdienstler in Moskau, die sich durchrangen, die Sowjetunion abzuschaffen, gehen auf sie zurück. Was mich an der Arbeit von Enno Patalas am meisten beeindruckt hat, ist, dass er die große Kulturrevolution der sechziger Jahre mitmachte, darin eine besondere Rolle fand. Es schien schon festzustehen, wie das geht: einen Film zu verstehen, als er mithalf, das wieder über den Haufen zu werfen. Es galt, die Verfremdung von Brecht und die von Warhol zusammenzudenken. Nicht zu versöhnen, eher absichtsvoll durcheinanderzuwerfen. Harun Farockis Aufsatz ist eine leicht gekürzte Fassung der Laudatio, die er, aus Anlass der Verleihung des »01-Award« der HdK Berlin, auf Frieda Grafe und Enno Patalas gehalten hat. http://www.jungle-world.com/_2000/50/24a.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive