________________________________________________________________________________ "Ich glaubte Gefangene zu sehen" [extended version] Harun Farocki gehörte mit Hartmut Bitomsky, Holger Meins, Wolfgang Petersen und Helge Sander zu den ersten Studierenden der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), wurde dort relegiert, war Mitherausgeber der legendären Filmkritik. Seine Filme (»Leben BRD«, »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges« u.a.) sind eine Schule des Sehens und der politischen Reflexion. I. Neun Minuten in Corcoran. Überwachung, Krieg, Montage Rembert Hüser: In deinem neuen Film »Ich glaubte Gefangene zu sehen« liegt der Häftling William Martinez neun Minuten auf dem Gefängnishof, bevor er abtransportiert wird. Neun Minuten, die einer genauen Choreographie folgen. Harun Farocki: Du sprichst vermutlich von Choreographie, weil der Hof als Schauplatz vorbestimmt erscheint. Schussbereite Wärter haben ihn im Visier, eine Kamera lauert auf einen Zwischenfall, der es wert ist, festgehalten zu werden. Martinez ist ein Insasse im Hochsicherheitsgefängnis von Corcoran in Kalifornien. Er fängt eine Schlägerei mit einem anderen Häftling an und wird niedergeschossen. Das Überwachungsvideo ist stumm, vom Schuss sieht man weißen Rauch durch das Bild ziehen. Es dauert dann neun Minuten, bevor man den Körper auf einer Bahre wegträgt, angeblich muss aus Sicherheitsgründen der Hof zuvor geräumt werden, womit man sich viel Zeit lässt, Martinez hat das nicht überlebt. Obwohl das Ereignis ganz anders aussieht, als es in Filmbildern erscheint, macht es doch den Eindruck, es müsse sich ereignen und könne sich nur so ereignen; es sieht aus wie vorbestimmt. Hüser: Diese neun Minuten, in denen die Gefangenen vom Hof abgeräumt werden, einer nach dem anderen, irgendwas zwischen Schachbrett, Billardtisch und Kegelbahn, sind entsprechend bühnengerecht choreographiert. Exakt einstudiert. Als die beiden Männer in business suits schließlich den Hof betreten und den Tod feststellen, ist - nachdem man zuvor schon Ausschnitte aus Stummfilmen gesehen hat - die Bilddramaturgie endgültig im Stummfilm angelangt: »... and then Martinez is gone«. Und dann liegt bei dir wieder eine Leiche da, diesmal in Farbe, und alle lachen. Es ist keine Leiche. Wir sind beim Rollenspiel in der Ausbilder-Ausbildung. Welche Choreographie antwortet in deinem Film auf die Choreographie des Fremdmaterials? - Das ja den Blick der Macht präsentiert, obwohl es mit seinen verwaschenen Schwarz-Weiß-Bildern auf mehrfach überspielten Kassetten wie ein Kassiber aussieht. Farocki: Ich zeige die Bilder in einer Doppelprojektion, was eine weichere Montage zur Folge hat, die gleichzeitigen Bilder und Schriften und Worte legen eher etwas nahe, als dass sie etwas ausführten. Außerdem versuche ich, sprunghaft zu sein, so wie es die plötzlichen Einfälle sind, die man bei guten Gesprächen hat. Auch das soll dieser unerbittlichen Logik des Vollzugs etwas entgegensetzen. Hüser: Dazu würde passen, dass das Footage-Material, das du verwendest, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten läuft. Zum Teil greifst du in das Material ein, indem du den Bildausschnitt variierst. Du zeigst Aufnahmen verschiedener Typen von Überwachungskameras: normale Video-Aufnahmen und Infrarot-Aufnahmen. Zweimal sind Stummfilme gegen die Bilder geschnitten: die Bestechung eines Aufsehers für eine Umarmung, der Brief in die Zelle, der die Trennung mitteilt. All das deutet auf eine umfangreiche Recherche hin. Ist der Film Teil eines größeren Arbeitszusammenhangs? Farocki: »Ich glaubte Gefangene zu sehen«, 25 Minuten lang, kam zustande, weil sich plötzlich die Gelegenheit ergab. Ich wurde von den Kuratoren Ruth Noack und Roger Bürgel zur Teilnahme an einer Ausstellung mit dem schönen Titel »Dinge, die wir nicht verstehen« eingeladen, das war im November 1999, und schon im Januar dieses Jahres war die Arbeit fertig. Schon vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit zu einem größeren Projekt über Gefängnis-Bilder angefangen. Da soll es insgesamt darüber gehen, wie das Gefängnis in Filmbildern erscheint. Aber das Geld für die Arbeit in Filmarchiven kam nicht zusammen, und so fing ich in den USA an, zunächst nach Bildern aus Überwachungskameras zu suchen. In den USA gibt es bekanntlich weit mehr Gefangene als in anderen reichen Ländern. Die prison population wächst ständig an, ohne dass die Kriminalität zunähme. Die meisten Insassen sind schwarz, und viele Strafen sind so skandalös hoch, dass die Aktualität mich mitriss. Ich war kurz davor, einen agitatorischen Film zu machen oder einen Film wie ein Flugblatt. Hüser: Warum nicht? Neulich wurde auf Arte ein chinesischer Film aus den Siebzigern gezeigt, »Der rote Everest«: 300 Rotarmisten marschieren auf den Mount Everest, um einen Dreifuß auf dem Gipfel aufzustellen. Neun von ihnen kommen durch. So die Nummer »Der gemeinsame Glaube und die Berge«. Reiner Agitprop. Aber mit einer Menge Kraft. Na ja, okay. Nun hat »Ich glaubte Gefangene zu sehen«, ich übertreibe mal, auch etwas von einer Literaturverfilmung, die einen Agitprop- Text verbessert. Es scheint, als verfilmtest du den Aufsatz von Gilles Deleuze »Das elektronische Halsband. Innenansichten der kontrollierten Gesellschaft«. Was dort reichlich theatralisch an Thesen zur Kontrollgesellschaft daherkommt, wird bei dir ein Arbeitsfeld. Wie kommt man an Aufnahmen aus Überwachungskameras? Farocki: Wir sagten den Behörden, wir wollten die neue Technik in den Gefängnissen dokumentieren, und das war ein gutes Ticket. Ich glaube deshalb, weil die Gefängnisse fast der einzige Ort sind, an denen die Produktivität nicht zu steigern ist, die Gefangenen werden zwar immer mehr, aber die Wärter können nicht jeden Monat 100 Gefangene mehr kontrollieren. Da glaubt man, mit Geräten könne man wenigstens symbolisch mit der allgemeinen Beschleunigung und Steigerung mithalten. Und so bekamen wir Gelegenheit, entweder selbst etwas mitzuschneiden oder ein altes Band zum Kopieren zu kriegen. So kamen wir an die Bilder der Wasserkanonen, mit denen die streitenden Häftlinge auseinander gespritzt werden oder an die Bilder aus dem Besucherraum, wo Häftlinge und Besucherinnen unerlaubte Zärtlichkeiten austauschen. Auf einmal ist da wieder das Bild der Liebe, die sich gegen das Verbot behauptet wie ein Naturrecht. Wir stießen auch auf einen Bürgerrechtler, der von Beruf Detektiv ist. Ein interessanter Mann, er ist ein Hans- Blumenberg-Fan und hat eine wunderbare Bibliothek. Wahrscheinlich beobachtet er vom Parkplatz aus den Hinterausgang eines Nachtclubs und liest dabei etwas aus Münster, über die Buch-Metapher, das Buch, das die Welt bedeutet. Er hat viele Stunden Material von den Freiganghöfen in Corcoran. Das sind schattenlose Kreissegmente aus Beton, die vollständig im Sichtfeld der Überwachungskameras liegen und auch im Schussfeld der Gewehre. Man sieht die Häftlinge Sport treiben und sehr oft prügeln sie sich. Seit der Eröffnung gab es Tausende von Schlägereien und etwa 2 000 Mal haben die Wärter geschossen, Hunderte wurden verwundet, ein paar Dutzend schwer, fünf wurden erschossen. Geschossen wird zuerst mit einem großkalibrigen Anti-Riot-Gewehr, dann mit scharfer Neun-Millimeter-Munition. Hüser: »Ich glaubte Gefangene zu sehen« endet mit dem Satz: »Suddenly there is no longer any reason to shoot at prisoners.« Vorher zeigst du, dass allein schon wegen der Architektur Blick und Gewaltausübung nicht voneinander zu trennen sind. Ist der Satz ironisch? Ein klein bisschen Glaube an den humanen Strafvollzug? Farocki: Die Ironie ist anders gerichtet: Es wird allzu deutlich, dass es nie einen Grund gab, auf die Häftlinge zu schießen. Und obwohl es grundlos und anachronistisch erscheint, geschieht es. Das politische Denken muss die Ungleichzeitigkeit akzeptieren. Hüser: Der Titel deines Films ist ambivalent. Er ist ein Zitat aus Roberto Rossellinis »Europa 51«. Ingrid Bergman sieht Arbeiter: »Ich glaube, Verurteilte zu sehen« - und scheint damit auf den ersten Blick den programmatischen Humanismus dieses Films zu unterstützen. So im Sinne von: Aber jetzt sehe ich »die Menschen«. Die Archaik einiger Metaphernfelder, die du im Film verwendest, Brot backen, Tiere schlachten, Münzen, Gladiatoren, könnte dazu passen. Auf der anderen Seite kann »glauben« sich aber auch auf »sehen« beziehen. Und da zeigt deine Demonstration der Überwachungstechnik amerikanischer Gefängnisse, dass dieser Humanismus, in dessen Namen ein Großteil dieser Technologie eingeführt worden ist, die Gewalt erst hervorbringt, die er zu verhindern vorgibt. Indem er etwa aus den Gefangenen ein Videospiel macht. Farocki: Ingrid Bergman denkt ans Gefängnis, als sie - für einen Tag - in einer Fabrik arbeitet. Am Ende sperrt man sie in eine Klinik. Mit Rossellinis Film entwirft sich ein zusammenhängendes Weltbild. Das ist wohl nicht zu halten, dennoch hat der Film für mich große Bedeutung, weil er eine Haltung bekräftigt, die sich mit dem Unrecht nicht abfinden will. Eine solche Unbedingtheit ist nötig - auch wenn es um viel Geringeres geht als um die Nachfolge Christi, nämlich nur darum, einen klaren Gedanken zur Gegenwart zu fassen. In diesem Sinn verstehe ich Angela Davis, die für die Abschaffung der Gefängnisse eintritt. Nicht Institutionen, die Gemeinschaft soll sich um die Menschen kümmern, die Straftaten begehen. Diese Forderung trifft etwas. In den USA setzen aber auch politische Aktivisten die These in Umlauf, die Weißen wollten die Sklaverei wieder einführen, weil so viele Gefangene schwarz sind und weil die Arbeit der Gefangenen so sehr ausgebeutet wird. Vielleicht taugt das Wort »Sklaverei« als Kampfbegriff, ich glaube aber, mit einer ökonomischen Theorie kommt man hier nicht weiter. Hüser: Du überprüfst in deinem Film aber schon ökonomische Kategorien im Kontext Gefängnis, acceleration und increase werden in einem Zwischentitel genannt. Was kann das dort meinen? Deine Recherche konzentriert sich stark auf das Verhältnis von Technik und Körper. Man hat die inmates und Wachmannschaften gemeinsam auf einer Seite (»They have nothing other than their body - and the membership in a gang«), man hat die Geometrie (der Höfe von Corcoran), den Radius der Kameras und die elektronischen Repräsentationen von Identität in den Kontrollräumen, und man hat die alles übergreifende Langeweile und Monotonie. Was dieses Szenario produziert, sind »erwartbare Unwahrscheinlichkeiten«: Liebe und Tod. Was ist das für eine Ökonomie? Farocki: Diese drakonische Straferei in den USA steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Geist, der sonst herrscht. Deleuze sagt, die klassischen Macht-Einrichtungen, Schule, Gefängnis seien in der Krise, und vielleicht gehört das gesteigerte Einsperren zu der Krise der Institution Gefängnis. Ich ließ mir durch den Kopf gehen, ob es gerade deshalb eine solche Ungeduld gibt mit denen, die nicht funktionieren, gerade weil es sonst so wenig Zwang gibt. Als ob Eltern sagten: Wir haben dich nie geschlagen, und dennoch. Dieses Bild von den Häftlingen, die sich prügeln, obwohl sie wissen, dass man auf sie schießen wird. Sie sehen aus wie Gladiatoren, aber ihr Spektakel ist nicht öffentlich. Die Überwachungskamera parodiert Öffentlichkeit, sie verbreitet das Ereignis nicht. Es ist, als wäre die Kamera das römische Stadtproletariat, das mit einem Schauspiel bei Laune gehalten werden soll. Hüser: Vor zwei Jahren hat Jill Godmillow in den USA deinen Film »Nicht löschbares Feuer« von 1968 nochmal gefilmt. Ihr Film heißt »What Farocki Taught«. Sie sagt: Farocki hat die Bilder, und die Bilder fehlen hier. Ich möchte die Bilder reimportieren, und deshalb mache ich diesen Film Einstellung für Einstellung nochmal. Wie ist das, von einem eigenen Film wieder eingeholt zu werden? Farocki: Reimportieren, das soll hier wohl heißen: diesen Film aus der Bundesrepublik zu einer amerikanischen Sache machen. Mein Film soll in den USA ankommen, eine Wirkung haben. Eine solche Wirkung hatten die Nudeln, die aus China kamen, aber heute für eine italienische Sache gelten, um solch einen Import geht es, es geht darum, sich etwas zu Eigen zu machen. Jill Godmillow macht meinen Film Einstellung für Einstellung nach, um ihn sich zu Eigen zu machen, stellvertretend für die USA. So wie man einen Text abschreibt, auf den man sich konzentrieren will. Ich habe für »Zwischen zwei Kriegen« den Text von Alfred Sohn-Rethel abgeschrieben, von dem die Idee war. Ich tat das, um ihn mir ganz bewusst zu machen. Aber ich tat es wohl auch, um damit etwas abzuleisten, was ich dem Text verdankte. Abschreiben ist natürlich auch eine Strafarbeit. Hüser: Wie siehst du »What Farocki Taught«? Und wie siehst du aus der Perspektive dieses Films dann wieder deinen alten Film? Farocki: Ich sehe kaum Godmillows Film, fast nur den eigenen. Das geht wohl nur mir so, der Film »What Farocki Taught« wird ja durchaus ohne meinen gezeigt, war auf vielen Festivals und gewann auch einen Preis, es scheint durchaus möglich zu sein, diesen Film zu sehen, ohne meinen zu kennen. Aber ich sehe durch das Remake nur den eigenen Film und deutlicher als je, das ist mir unheimlich. Vielleicht ist es nur diese Entrückung, als ob ich in einer fremden Erzählung vorkäme, aber mit Einzelheiten, die nur mir bekannt sein können. Außerdem sehe ich durch ihren Film den eigenen Film kritischer. Wenn man mit einem Menschen sehr vertraut ist, weiß man zu jedem Einwand schon eine Entgegnung im Voraus, und diese Vertrautheit mit dem eigenen Film wird mir genommen, wenn ich ihn durch das Remake sehe. Insofern ist das auch für mich eine Strafe. Hüser: Godmillows Intention ist politischer Art. Sie sagt: Der macht in der Filmästhetik Sachen, die kennen wir so nicht, diese Bilder fehlen hier. Wir brauchen das. Wie soll man sich so einen Reimport einer Filmästhetik, einen Übergang in eine andere Filmkultur vorstellen? Oder in die eigene? Wie könnte man den Typ Film »Nicht löschbares Feuer« in die Filmkultur der Bundesrepublik reimportieren? Godmillow bietet etwas Exerzitienhaftes an, das durchaus etwas für sich hat. Vom Titel an gibt es die ambivalente Frage nach der Autorität. Da behauptet jemand, er gehe bei dir in die Lehre und behauptet zugleich eine Quintessenz: Das soll es sein. Was ist denn drin im Film von deiner Lehre? Farocki: »Nicht löschbares Feuer« hat in einer Weise Bestand, ich finde es toll, dass etwas noch existiert, was ich vor so langer Zeit machte. Allerdings ist mir das eher zugefallen - das ruft ja auch schon wieder nach Bestrafung! Der Film ist voller unvermochter Dinge und Ungeschicklichkeiten, und gerade die machen das aus, was mir heute als ästhetische Radikalität vorkommt. Wir hatten damals die Idee, den ganzen Film mit einem 9,5- Millimeter-Objektiv zu drehen, was ja eine kindische Idee ist. Wir hatten wohl gehört, dass Robert Bresson immer ein 50- Millimeter-Objektiv benutzte und wollten nun auch so etwas schaffen. Dass zwei junge Menschen irgendwo Kaffee trinken und sagen: Wusstest du, dass dieser Film nur mit einem 9,5- Millimeter-Objektiv gedreht wurde? Wegen dieses Objektivs hat mein Film diese Hässlichkeit, wie das in der Malerei den Kölner Linksradikalen gelang. Ganz anders als die Lithos im Pariser Mai 1968, die ja gleich als Poster konzipiert waren. Hüser: War die Kooperation mit Godmillow und dem Team für dich anders, als wenn du etwa auf den Film hin interviewt worden wärest? Farocki: Als ich 1991 im Anthology Cinema in New York Filme zeigte, sprach Jill Godmillow mich an, und ich verkaufte ihr die Remake-Rechte für einen Dollar. Später schrieb sie mir manchmal und fragte, was ist das für eine Maschine, was ist das für ein Gerät? Wo um Himmels Willen finde ich das? Ich nahm mir auch gleich vor, auf ihre Sache keinen Einfluss zu nehmen, so wie ich das mit Texten versuche, die über mich geschrieben werden, ich versuche, nicht schon meine eigene Witwe zu sein. Den Dollar habe ich übrigens bis heute noch nicht gekriegt. Hüser: Kann ich Remake-Rechte für andere Filme auch für einen Dollar kriegen? Ich zahle auch. Farocki: Ja gerne. Aber was heißt ein Remake beim Film? Mir fallen zunächst die Remakes ein, bei denen Hollywood sagt, das können wir besser, und den Film kauft, kopiert und das Negativ des Vorbilds vernichtet. (Es gibt aus den Fünfzigern einen Dreigroschen-Film mit Curd Jürgens, da durfte dann der Pabst- Film nicht mehr öffentlich gezeigt werden.) In der Musik kommt es mir anders vor: als gäbe es da eine wirkliche Aktualisierung. Wie ist das bei Lauryn Hill und »Killing Me Softly«? Hüser: Spex, hilf! Farocki: Dann gibt es diese merkwürdigen Remakes wie das von Gus van Sant nach Hitchcock, da denken die Produzenten sicher auch, nur so kann man wieder Leute in einen Film reinkriegen, dessen Titel sehr bekannt ist. Aber Einstellung für Einstellung zu kopieren ist doch der Idee der Aufführung nahe. Stellen wir uns vor, man würde Filme als Partituren nehmen, die jeweils nach einer Aufführung verlangen. Man macht einen Film nach, nicht um ihn aufs Höchste zu ehren oder zu bestehlen, sondern einfach, weil man an seiner Produktion teilnehmen will. Musiker werden ja in Deutschland im Urheberrecht »Nachschöpfer« genannt, hier geht es um »Mitschöpfer«. Da solltest du aber mit deinen Dollars andere Filme kaufen. Hüser: Ich bleibe noch kurz bei der Frage des Politischen. 1982 wirbt Basis-Film für deinen Film »Etwas wird sichtbar« mit dem Motto: »Man muss die Bilder aus Vietnam durch Bilder von hier ersetzen, Vietnam hier ausdrücken.« Auf dem Titelblatt des Filmkritik-Heftes zu diesem Film steht: »Wir studieren den Krieg in Vietnam und gelangen in die USA.« 1998 haben wir das amerikanische Studium deines deutschen Studiums des amerikanischen Krieges, um in die USA zu gelangen. Laurence Rickels hat in »The Case of California« Kalifornien in der Verschränkung von exilierter Psychoanalyse, Frankfurter Schule und Hollywood als deutschen Raum diskutiert. Könntest du dir vorstellen, mit dem Studium eines Hollywoodfilms in die Bundesrepublik zu kommen? Was würdest du für ein Eins- zu-eins- Remake auswählen? Farocki: Wenn überhaupt würde ich »Murder by Contract« von Max Lerner remaken. Ich sah einmal ein Kind, das von der Siegessäule aus durch ein Fernrohr auf sein Dreirad schaute. In den letzten Jahren war ich viel in Kalifornien, und sah mit ähnlichem Blick auf die Titel in den Videotheken und in den Buchläden. Das deutsche Autorenkino gilt dort viel mehr als hier und auch die Frankfurter Schule - das wird sich auch hier auswirken. Filme und Bücher gehören in Kalifornien zusammen, wie ich das sonst nur aus Frankreich kenne. In Deutschland ist es ja noch immer so, dass viele Professoren zum letzten Mal im Kino waren, als es »Les Enfants du Paradis« gab. Auch bei den Studenten hat das Filmverständnis in den letzten zehn, 20 Jahren sehr zugenommen. Als ich mit Film anfing, gab es kaum jemanden, der die Schnitte in einem Film sah oder höchstens die ganz auffälligen. Ich glaube, heute gibt es viele, die Hitchcock so befragen könnten, wie François Truffaut das tat, damals war er fast der Einzige, der sah, dass es etwa in »The Rope« kaum Schnitte gab. Hüser: Hitchcock selbst könnte anders arbeiten. Der Bildpool im Regal hat ja auch Rückwirkungen auf die Arbeitsweise der Regisseure. Tarantino ist das Standardbeispiel, da kommt der alte Videotheksjob deutlich durch. Wie ist es bei dir? Welche Auswirkungen hat die technologische Entwicklung, die Arbeit am Avid zum Beispiel, auf deine Arbeitsweise? Du thematisierst in »Schnittstelle« die unterschiedlichen Filmarbeitsplätze. Die Bewegung des Films geht selbst in Richtung Turing, Computer. Farocki: Zunächst sind alle Geräte für mich zu schnell, selbst eine VHS-Anlage. Mit einem Avid ist es schrecklich: gesagt - getan. Ich sage zu meinem Editor: Sollten wir nicht ... - und bevor der Satz beendet ist, hat er das schon ausgeführt. Dabei mache ich die Änderungen, um Zeit zu gewinnen. Ich will alles immer wieder etwas anders vor Augen haben, so wie man einen Gedanken über Monate gegenüber verschiedenen Menschen immer wieder anders ausspricht, in der Hoffnung, dass er so Fülle und Gestalt gewänne. Ich brauche keine schnellen Geräte und benutze auch selten irgendwelche Effekte. Die ersten 30 Minuten von »Natural Born Killers«, von denen man gar nicht glauben kann, dass sie etwas mit Oliver Stone zu tun haben, gibt es wahrscheinlich auch nur, weil sie so leicht zu schneiden sind. Weil es kaum noch materiellen Widerstand gegen die Ideen gibt. Ich kann mir vorstellen, dass man da einen Computer braucht, damit man mehr durchspielen kann, als sich überhaupt imaginieren lässt. Aber so wie ich es sage, ist es fast immer falsch! Wenn die Atombombe mit der Hilfe von Computern gebaut worden wäre, dann würde man auch sagen: Ohne Computer hätte man die Bombe nicht bauen können. Aber natürlich beeinflusst mich der Avid, auch wenn ich ihn kaum je benutze, weil andere ihn benutzen. Ich kann von Berlin mit dem Fahrrad nach Paris fahren, aber ich werde dort mit Menschen zusammentreffen, die sich daran gewöhnt haben, das Flugzeug und moderne Kommunikationsmittel zu benutzen. Andererseits ist es so wie mit den Autos, da gibt es Millionen, die verstehen diese Dinger im Detail. Damit werden sie nicht Ford oder Gates, aber man kann sie nicht so einfach für dumm verkaufen. Hüser: Eine Kleinigkeit noch: Maschinen könnte man nach Sinnlichkeit unterscheiden. Ein Filmprojektor ist sicher sinnlicher als ein Videorecorder. In »Schnittstelle« betonst du die taktile Dimension beim traditionellen Schneidetisch, du streichst über den Filmstreifen. Ist dieses Bild eine Pathetisierung, eine Art nachgetöpferter Benjamin, oder macht man das wirklich? Farocki: Ja, das mache ich schon, aber nicht wie ein Bauer, der aus dem Hundertjährigen Krieg zurückkommt und in seine Scholle greift, sondern aus Ungeduld. Die Arbeit am Schneidetisch ging mir zu langsam, oft vergaß ich, was ich wollte, bevor es getan war. Dann halfen die Möglichkeiten des Avid, sich zu erinnern. Am Schneidetisch sieht man das Bild auch nicht gut, schlechter als ein analoges oder digitales Videobild. Aber es schwang immer die Vorstellung einer künftigen Projektion mit, bei der aus der Raupe ein Schmetterling wird, das gibt es nicht beim elektronischen Bild. Da hat man allerdings mit zwei Bildern zu tun! Man hat rechts das schon montierte Bild, und links sucht man das Bild, das angefügt werden soll. Das rechte Bild stellt eine Forderung, wird aber vom linken auch kritisiert, manchmal sogar verworfen. Das hat mich darauf gebracht, mit zweistreifigen Arbeiten zu experimentieren, zuerst bei »Schnittstelle«, jetzt wieder bei »Ich glaubte Gefangene zu sehen«. Es geht um eine weiche Montage, bei der ein Bild nicht an die Stelle des anderen tritt, sondern das andere ergänzt, oder umwertet, gewichtet. Hüser: Du bist 1999 mitten im Krieg aus den USA in die Bundesrepublik zurückgekehrt und wurdest in einer gewissen Art und Weise von einem anderen Film von dir wieder eingeholt, nämlich von »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«. Vieles von dem, was du da analysierst, stand plötzlich wieder auf der Tagesordnung. Anders gesagt: Du hast zehn Jahre früher den Film gemacht, den man zur Analyse dieser Situation gut hätte verwenden können. Wie siehst du diesen Film heute mit der Möglichkeit des Transatlantik-Shifts, der Farocki-Wahrnehmung des Krieges in den USA und hier? War die mediale Situation diesmal ein langweiliges Déjà-vu? Farocki: 1990, beim Golf-Krieg, da kam es mir so vor, als sei mein Film dazu der Schlüssel. Ich rief auch Fernsehredakteure an und schickte ihnen die VHS - sie hätten nichts bezahlen müssen, die Rechte waren frei für »Bilder-Krieg«, der Fernseh- Kurzfassung von »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«. Aber bevor die Redakteure die VHS angeschaut hatten, war der Krieg schon vorbei. Ich sage jetzt »Schlüssel«, als öffne sich eine Tür, zur Sache selbst oder ihrer Wahrheit. »Schlüssel« meine ich jetzt, so wie man die Taste »Open« drückt, um ein Dokument vor sich zu haben, nicht als Schlüssel zur Wahrheit. Ich glaube, dass der Golf-Krieg ein gutes Beispiel dafür ist, dass der Militär-Technik-Apparat eine eigene Dynamik hat und sich die Anlässe schafft, um in Aktion zu treten. Aber im Falle des Kosovo-Krieges scheint mir das anders, ich glaube, da nutzt der Militärkomplex vielleicht die Gelegenheit, aber er scheint sie nicht sich verschafft zu haben. Interessant ist, dass der Golf-Krieg in den USA - und auch hier - fast gänzlich vergessen ist. Schon George Bush wurde nicht wieder gewählt, zwei Jahre nach seinem großen Sieg. Und heute erinnert sich kein Mensch daran, dass es den Krieg mal gegeben hat. Das liegt wohl weniger daran, dass man die Fernsehprogramme nicht mehr erinnert, weil es so viele gibt, sondern dass es keine Begriffe für diesen Krieg gibt, nichts, womit man ihn »verstehen«, wenigstens erinnern könnte - angesichts von 60 Sekunden-Clips startender Maschinen in Italien, irgendeines Bildes an den Gittern eines Lagers und eines Reporters, der sagt: »... und das war das, und ich bin der und der.« Nachrichten, die länger sind als drei Minuten, können sich die Sender schon gar nicht mehr leisten. Hüser: Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich die Intellektuellen auf das große literarische Klima eingelassen haben. Für mich ist das Schweigen und Vergessen hier - es war ja unser erster Krieg, jetzt, wo sich serbischer Hufeisenplan, Good-Will-Rambouillet, Racak und die großen Massaker so langsam in Luft auflösen - fast noch skandalöser als das zu Kriegszeiten. Es sieht fast so aus, als ob wir in einen Angriffskrieg ohne internationales Mandat eingestiegen sind, nur damit die FAZ und die Bundesregierung mal ein Kriegstagebuch schreiben können. Und jetzt will keiner die Bücher lesen. Da ist es schon allein mit Blick auf die Funktion der Luftaufklärung in den Pressekonferenzen des Bundesverteidigungsprosaministers hilfreich, deinen Film wieder anzuschauen. Farocki: In »Bilder der Welt« dachte ich, es sei gefährlich, dass die Erde für die Cruise Missiles genau vermessen wird. Ich griff in die Geschichte des Bildermachens und leitete her, dass man aufhebt, was man abbildet. Wie bei Poe: Das Bild gelingt und das Vorbild ist verdorben. Die Abbildung hebt auf. Das ist eine alte Erkenntnis, aber erst seit Hiroshima müssen wir fürchten, dass die Welt zum Modell gemacht wird, damit man sie auslöschen kann, oder dass aus der Modellierung die Auslöschung folgt. Als ich an »Bilder der Welt« arbeitete, waren die Bilder noch nicht zugänglich, die dann im Golf-Krieg diese gänzlich neue Kriegsberichterstattung ausmachten. Hüser: In deinem nächsten Film wird Luftaufklärung in einem Zusammenhang mit Einkaufszentren stehen. Farocki: In den letzten Monaten habe ich in den USA eine Recherche zu Malls gemacht, und wie sie entworfen und ausgeführt werden. Ich stieß auf ein Buch, das Studenten von Rem Koolhaas gemacht haben, »The Harvard Book of Shopping«. Da wird die These gewagt, viele High-Tech-Firmen, die für die Rüstung gearbeitet haben, würden jetzt High-Tech-Geräte für die Retail-Industrie machen, also etwa elektronische Landkarten, auf denen man die Kaufkraft für den Einzugsbereich eines projektierten Zentrums ablesen kann, economical heat, und ebenso gibt es einen Crime Predicter für eine bestimmte Nachbarschaft. Eine Konvergenz ist das, das Ziel ist nicht mehr der äußere Feind, vielmehr der Verbraucher. Sie führen auch das Beispiel an, dass der General, der im Golf-Krieg die Logistik gemacht hatte, dann zu Sears ging und den Konzern vor der Pleite rettete. Hüser: Expandiert denn das Mall-Prinzip überhaupt? Ich dachte immer, es sei gesättigt. Das hört sich ja so an, als ob es eine verstärkte Mallisierung der amerikanischen Gesellschaft gäbe. Farocki: Es gibt wohl eine Sättigung, aber die Investition von Geld und Energie hört nicht auf. Man baut eine neue Mall neben eine alte oder baut eine alte um. Vor hundert Jahren in Deutschland baute man überall Stadtkerne, mit Rathaus, Schule, Polizei, Kirche, Kriegerdenkmal, das sollte der Umgebung einen Impuls und eine Ausrichtung geben. Heute kann und soll dieser Impuls von einem Einkaufszentrum ausgehen, Bahnhöfe, Schwimmbäder, Fabrikhallen, alles wird zu Einkaufszentren zurzeit. Diese Zentren sollen »Erlebniswelten« sein, da wirkt eine totalisierende Vorstellung. So wie Hollywood gegenwärtig darauf aus ist, dass der Wunsch nach anderen Filmen, einem anderen Film, gar nicht mehr aufkommen kann. Hüser: Stimmt das? So totalisierend sehe ich Hollywood nicht. Die Grenze zwischen Hollywood und Independent ist doch äußerst durchlässig: Filme wie »Buffalo 66«, »Short Cuts«, »Magnolia« erzählen ja durchaus wie ein anderer Film oder versuchen es zumindest. Da werden die Wünsche, von denen du sprichst, wach gehalten und bearbeitet. Schlimm sind die Vorstellungen im deutschen Spielfilm von dem, was ein richtiger amerikanischer Film sein soll. Was sich in Hollywood sogar fortsetzt: Die schlimmsten patriotischen Ami-Filme werden ja mittlerweile von Deutschen gedreht, die sich dort etablieren wollen. Und Hollywood antwortet darauf mit »Mars Attacks«. Farocki: Der Krieg kam auch im Zusammenhang mit »Ich glaubte Gefangene zu sehen« in meinen Recherchen vor. Auch die Gefängnistechnik hat eine kriegerische Herkunft: elektronische Spürnasen, die die kleinste Menge von Drogen nachweisen können oder auch Augen-Scanner, die in Sekunden einen Menschen identifizieren können. Das wird das Ende einer ganzen Erzählung sein: dass ein Mensch mit dem anderen die Identität tauscht und so aus dem Gefängnis rauskommt. Ich dachte also an den Krieg, weil ich diese kleinen Technikfirmen besuchte. Der Krieg im Kosovo selbst war in den USA merkwürdig abwesend. II. Obdachlose am Flughafen. Sprache und Film, Filmsprache Rembert Hüser: In deinem Film »Schnittstelle« setzt du dich mit deinem eigenen Arbeitsplatz auseinander, zu einem Zeitpunkt, wo du selbst zunehmend etabliert, ja kanonisiert bist. Wissenschaftler schreiben Promotionen über dich; dir werden internationale Retrospektiven auf Festivals und in Museen gewidmet; es gibt erste Video- Editionen. Farocki ist anerkannter Teil der Filmgeschichte. Kann sich eine Reflexion auf den eigenen Arbeitsplatz einschließlich des Wiederanschauens von eigenem Material zu einem Zeitpunkt, da dieser Klassikerstatus verstärkt thematisiert wird, von der eigenen Kanonisierung freimachen? Oder verändert das auch den eigenen Blick? Guckst du bei dir selbst z.B. mehr auf das »Werk« hin? Harun Farocki: Wenn man 16 ist und z.B. Jimi Hendrix liebt, kann man nicht verstehen, wie der sich das Leben nimmt. Das würde man selbst nicht tun, wenn man so geliebt würde, wie man selbst Hendrix liebt. Ich stehe also nicht morgens vor dem Spiegel und sage mir: Jetzt stehst du endlich in der Filmgeschichte. Wobei dieses Buch Filmgeschichte auch immer mehr zerfleddert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich da hingedrängt habe, und vielleicht weil das etwas peinlich ist, versuche ich hauptsächlich, mein kulturelles Kapital umzutauschen in Produktionsmittel. Und das ist nicht leicht. Die Straubs sagen schon lange, dass es eine Filmgeschichte gar nicht gibt - denken wir an all die Leute im Studiosystem in Hollywood, für die so etwas wie ein Autorenstatus nicht passt, obwohl sie an interessanten Filmen beteiligt waren. Heute ist Film so unübersichtlich wie Musik. Mir fiel in den USA besonders auf, dass es Subsysteme gibt, die den Zusammenhang mit anderen Verzweigungen nicht herstellen können. Es gibt zum Beispiel einen Korpus von Filmen, die in Filmdepartments gelehrt, diskutiert, beschrieben werden. Dazu gehören Filme von Laura Mulvey, wohl weil ihre Schriften für die feministische Filmtheorie so bestimmend waren, ein wunderbarer Film wie »Wanda« von Barbara Loden fehlt jedoch. Je mehr über einen Film geschrieben wurde, desto größer die Chance, dass wieder über ihn geschrieben wird, womit die Filmtexte wichtiger sind als die Filme. Hüser: Das ist auch ein Problem der Archivierung. Filmlust läuft eigentlich über Video. Wer Spaß daran hat, sich über Licht-aus-Licht-an hinaus mit Film zu beschäftigen, operiert aus einer Video-Sammlung heraus. (Und freut sich dann, wenn er mal einen seiner Filme im Kino sehen kann.) Sonst geht man vom Kino nach Hause und sitzt wieder vor seiner Bücherwand. Wie war das noch gleich? Und findet dann vielleicht ein gutes Stück Nietzsche im Film. Auf der einen Seite müssen Mulvey und Loden also unbedingt im Fernsehen laufen, damit jeder sich den Film mitschneiden kann, auf der anderen Seite müssen die Mediotheken an den Unis daran gehindert werden, sich daran zu gewöhnen, alles umsonst zu kriegen. Dafür ist zuallererst ein Umdenken auf der Skala der Wertigkeiten erforderlich. »Video« ist im Anschaffungsetat der Bibliotheken eben noch lange nicht »Buch«. Das hängt auch damit zusammen, dass Video selbst bei Filmwissenschaftlern den Ruch des Schmierigen bis heute nicht losgeworden ist. Das eigene Fach glaubt nicht dran. Wie sieht dieses Problem aus der Perspektive der Filmemacher aus? Farocki: Die Bedeutung von Video früher bestand ja auch nicht darin, dass jeder eine Kamera kriegen, sondern dass jeder einen Recorder erwerben konnte. Dass das Produktionsgeheimnis verschwand. Man konnte wirklich mal sehen, wie die Dinge gemacht waren. Es stimmte ja keine Beschreibung. In den Aufsätzen standen die absurdesten Dinge über irgendwelche Filme. Was da vorkäme oder wie es gemacht wäre. Das war alles unhaltbar. Ich finde es interessant, dass jetzt zwei Sachen zusammenfallen: Jetzt sind die Geräte so billig geworden, dass man fast ohne Geld etwas elektronisch produzieren kann, zugleich nimmt einem das Fernsehen das nicht mehr ab. Als Hellmuth Costard früher versuchte, die Super-Acht-Technik zu verbessern, geschah das mit dem Ziel, mit weniger Geld, dafür aber einem größeren Zeitbudget etwas herstellen zu können. Genau das brauche ich auch: länger auswählen können, länger bedenken können, länger schneiden, sonst kommt nur der Standard heraus. Insofern sehe ich schon lange auf ein Werk. Hüser: Bleiben wir noch beim Video. In den USA ist jetzt eine erste Edition deiner Filme erschienen. Wie wird das Produkt Farocki dort beworben? Kannst du mal die Cover zu deinen einzelnen Filmen beschreiben? Was für eine Auffassung von Dokumentarfilm kommt dort zum Ausdruck? Hattest du Einfluss auf die Auswahl der Bilder? Es sind ja nicht die Filmplakate. Farocki: Facets in Chicago ist so etwas wie eine Super- Kinemathek, sie bieten 35 000 Titel an, und Milos Stehlik gibt sich größte Mühe, etwa in Kanada eine bessere Godard-Kopie aufzutreiben. Die Umschläge zu meinen Titeln sehen wohl so aus, als wäre ich ein DJ. Das lässt mich an Heiner Müller denken, der wie ein Warhol auftrat, wozu seine Texte ja gar nicht passten. Als wollte er die Texte schützen mit einem großen Ablenkungsmanöver. Hüser: Könnte ein eigener Fernsehkanal für die Autorenfilmer von Vorteil sein? Der nur Farockis, Costards und Lodens einkauft? Farocki: Es kann ja sein, dass der 150ste oder 300ste Kanal sich auch für meine Filme eignet, aber da wird es so wenig Geld geben, dass ich davon nicht mehr werde produzieren können. Wenn es schon kein Geld gibt, dann sollte ein solches Programm wenigstens von Underground-Leuten gemacht werden, sodass es wenigstens interessant ist. Wir brauchen sowieso neue Abspielmöglichkeiten. Hüser: Im SZ-Feuilleton wurde im Kontext von Popkultur neulich ganz triumphal Houellebecq zitiert: »Wenn zum Beispiel in einer literarischen Unterhaltung das Wort Schreibweise fällt, weiß man, dass es Zeit ist, sich ein wenig zu entspannen. Sich umzuschauen, noch ein Bier zu bestellen.« Wie liest du im Zeitalter der Entspannung, wo man meint, man hätte die Schreibweisen glücklich überstanden, Filmkritiken? Wie erklärst du dir, dass der Status des eigenen Textes bei euch seinerzeit in der Filmkritik viel stärker, viel spielerischer reflektiert wurde als heute, wo Reflexionen auf das Performative allgemein zum guten Ton gehören? Farocki: In der Jungle World erscheinen seit einiger Zeit sehr gute Texte zu Filmen, von Michael Baute, Ludger Blanke und Stefan Pethke. Bei denen denke ich, man könnte jetzt die Filmkritik wieder aufmachen. Auf einer Party mit vielen Film- Studis in Berkeley erzählte jemand von einem Mann auf Hawaii, der habe von einem Western eine sehr Derridasche Interpretation gegeben. In solch einem Moment bestätigen sich meine Vorurteile: Filmstudenten geht der Text über den Film, der mit der Textproduktion sogar aufgehoben ist (»ein Western«), das Denken leitet sich von Derrida her und nicht von einem Film. Was man sagen will, dazu ist der Film höchstens ein Vorwand. Hüser: Solche Texte werden auch nur für die Parties geschrieben. Hier wäre es Deleuze. Oder Luhmann. Oder Enzensberger. Oder Butler, Turing oder Einkünstlerdergalerienagelauskölnnewyorkundberlin. Je nach Szene. Schade ist nur, dass das zu Grunde liegende Problem immer erst bei Theoretikern auf der momentanen Out-Liste wahrgenommen wird, deren Fans in den Erzählungen dann alle gleich schon auf Hawaii sitzen müssen, weit ab vom Zentrum. Dass ein Theoriediskurs umso weniger gedacht wird, just a bore ist, je namenslastiger und merksatzbesessener er daherkommt, gerät nie in den Blick. Womit der Hawaii-Mann aber natürlich ungelesen Recht hat, ist, dass viel mehr zu Western geschrieben werden müsste. Aber das war jetzt von dir kein grundsätzliches Verdikt gegen ein theoriegeleitetes Beobachten von Film, oder? Farocki: Keineswegs, die Jahre in den USA haben mich dazu gebracht umzudenken. Zuvor hielt ich nicht viel von Fassbinder, nicht nur weil er so ausgreifend war, sondern auch, weil er kein Stilist war. Er kam ja mal von Straub her und Brecht und brach mit den Regeln dieser Schule. Er kam auf die Person zurück, die sich zur Identifikation anbietet, wenn auch meist in melodramatischer Übertreibung. Kaja Silverman und Thomas Elsässer haben dargestellt, wie bei Fassbinder die Politik in der Liebe dargestellt wird, die Ausbeutung in der Sexualität. Diese Schriften haben Fassbinders Filme bereichert, auch wenn ich sie sehe - nicht nur beim Lesen oder Denken. Ich habe auch verstanden, dass für Fassbinder etwas gilt, was ich nicht für möglich hielt: Dass er etwas mitteilen kann, was nicht in der »Sprache« seiner Filme festzustellen ist, sondern in seiner Mitteilungsabsicht. Seine Intention drückt sich aus; so wie man manchmal mit einer fremden Sprache mehr mitteilen kann, als eigentlich möglich sein kann. Das geht ja vor allem Liebenden so. Hüser: In deinen Filmen gibt es eine kontinuierliche Beschäftigung mit Filmgeschichte; in einer Reihe von Filmen tritt diese Beschäftigung auch in den Vordergrund. Außer Godard gibt es nicht viele, die in diesem Bereich so arbeiten, wie die Filmwissenschaften mit viel Glück einmal aussehen könnten - man könnte noch Matthias Müllers »Home Stories« und Phoenix' »Tapes« anführen -, deshalb würde ich eure beiden Projekte gern einmal in Beziehung setzen. Mit Blick auf »Der Ausdruck der Hände« und »Arbeiter verlassen die Fabrik«: Könntest du einmal versuchen, deine spezifische Form der Reihenbildung, Materialauswahl und Verknüpfungstechnik zu charakterisieren? Farocki: 1995, als das Kino 100 wurde, da hatte ich die Idee, den Film »Arbeiter verlassen die Fabrik« von Lumière zu nehmen und in der Filmgeschichte viele Beispiele zu suchen, in denen auch ArbeiterInnen die Fabrik verlassen. Darunter waren Stars wie Chaplin und Monroe, aber auch Angestellte und Arbeiter von Siemens in Berlin 1934, die zu einer Nazi-Kundgebung aufbrechen. Und eine Betriebskampfgruppe in der DDR, die in Uniformen und gepanzerten Wagen auszieht, um im Wald Provokateure zu stellen - es handelt sich aber bloß um eine Übung, wie man später erfährt. Der tatsächliche Klassenfeind ist wohl nicht darstellbar, oder es ist zu gefährlich, ihm eine reale Gestalt zu geben. Ich versammelte Szenen aus den USA und Europa und aus jedem Jahrzehnt der Kinogeschichte, da lässt sich eine Menge über einen »filmischen Ausdruck« herauslesen, das fängt ja damit an, dass ArbeiterInnen nicht mehr als solche zu erkennen sind, nachdem sie das Werkstor durchschritten haben. Einen Augenblick später sind sie von anderen Passanten kaum noch zu unterscheiden. Oder: Das war ja mal das Szenario der Kommunisten, dass der ökonomische Kampf in einen politischen umschlägt, und dafür wäre der Fabrikausgang der ideale Ort. Aber: So ist kein kommunistisches Regime an die Macht gekommen, und so sind die Kommunisten nicht einmal gestürzt worden. Sieht man von der Lenin-Werft in Danzig einmal ab. Aber vor allem ist es ein großes Vergnügen, einen bestimmten Vorgang immer wieder, manchmal ähnlich, meistens sehr verschieden, vor Augen zu haben. Ich hätte auch gerne ein Buch mit 1000 Ausführungen des Motivs »Eine Frau nimmt einem schlafenden Mann etwas weg« oder auch: »Wie wird Seife gehalten?« In der Werbung halten die Frauen die Seife wie Parfum, weil das Waschen zu sehr auf den Schmutz verweist, den es wohl nicht geben darf. Hüser: Wie würdest du Godards Verfahren im »Histoire(s) de cinéma«-Projekt davon abgrenzen? Du und Kaja Silverman, ihr schreibt in eurer Analyse von »Le Gai Savoir« in »Von Godard sprechen«: »Auch Godard muss nicht alle Texte lesen, die er zitiert.« Das ist einleuchtend. Vielleicht ist es ja unter bestimmten Umständen genauso buchstäblich oder sogar buchstäblicher, sich nicht an den Buchstaben zu halten. Farocki: Ich glaube, dass Godard andere Studien macht. In »Histoire(s) de cinéma« kam es mir so vor, dass er sich immer sogleich vom Material entfernt. Eine intellektuelle Wahrnehmung, eine andere intellektuelle Wahrnehmung und dann werden die miteinander verglichen, es fehlt die Wörtlichkeit. Die erste Hauptidee: Sternberg beleuchtet Marlene Dietrich so, wie Speer Hitler beleuchtet. Was nicht so ganz stimmt, aber eine tolle Idee ist. Der ist auf diese großen Sachen aus. Kulturgeschichte des Lichts, vielleicht steht das sogar mit der französischen Geschichtsschule in Verbindung. Ich habe zum Bezug eher so etwas wie das in Bonn erscheinende »Archiv für Begriffsforschung«, da wird etwa untersucht, was es mit dem Wort »genießen« mit Genitiv auf sich hat, wie bei Bach: Genieße der Ruh'. Es geht da um Wortfelder und Bedeutungswandel, auch um Wortschöpfung und - erweiterung. Es gibt von Gianfranco Baruchello und Alberto Griffi den Film »La verifica incerta«, die haben auf dem Schrott vielleicht 40 Spielfilme gekauft und neu zusammengeschnitten. Sie schneiden von einem Schiff, auf dem Curd Jürgens salutiert und das eine Breitseite feuert, auf Mädchen in Bikinis aus einem St.Tropez-Film, die von einer Yacht ins Wasser springen. Der Schnitt macht glauben, sie wollten sich retten und man sieht auch, dass das nicht der Grund ist. In diesem Nicht-Richtig- Funktionieren wird sehr deutlich, dass es auch in der Filmerzählung feststehende Ausdrücke gibt und da fing ich an, mir eine Art filmischen Thesaurus vorzustellen. Wie bei diesen Schreibprogrammen, man klickt ein Wort an und bekommt nicht nur die Synonyme, sondern auch noch einen Satz ähnlich klingender Worte, die man gemeint haben könnte! Wenn man zu erzählen hat, dass eine Frau einem schlafenden Mann etwas wegnimmt, was hat man da zu erwarten, wie kann man dieser Erwartung begegnen? Ich wundere mich auch, dass das so wenig gemacht wird, dass Kinematheken und andere Forschungsinstitute so wenig sampeln und vergleichen. Hüser: Kannst du einmal charakterisieren, wie du einen Film recherchierst? In den Abspännen werden ja zum Teil verschiedene Recherche-Teams genannt in verschiedenen Ländern. Farocki: Seit fast 20 Jahren arbeite ich mit Rechercheuren zusammen, mit einigen schon lange, zur Zeit mit Cathy Crane, Brett Simon, Stefan Pethke, Matthias Rajmann. Bei einem Film ohne Skript sind das natürlich Mit-Autoren. Wenn man nach einem Ereignis sucht, so kann es sein, dass es sich 1 000 Mal so ereignet, dass ich es nicht filmen kann oder zumindest nicht montieren. Das ist so ähnlich wie mit einem Schauplatz, der für einen Spielfilm gesucht wird: Es reicht nicht aus, dass da einfach die Voraussetzungen erfüllt sind, etwa, dass ein Haus dreieckige Balkons hat. Der Schauplatz muss von sich aus etwas mitteilen. Ich mag die Tatsächlichkeit, um die es beim Film geht, es muss etwas wirklich geben und außerdem: jetzt, damit man es filmen kann. Tatsächlich geht es darum, Allgemeinheiten zu konkretisieren. Es ist leicht zu sagen: »Die Arbeiter verlassen die Fabrik, wenn die Arbeit vorbei ist.« Aber es ist schwer herauszufinden, wann und wo das geschieht, und vor allem, dass das Bild über diesen Satz hinausgeht. Wir haben tatsächlich schon nach einer Tür gesucht, die sich im dritten Stock befindet, ohne einen Balkon davor, oder nach einem Eisenbahngleis, das gerade aufs Meer zu verläuft - und beides gefunden. Wir erleben das gerade beim Mall-Projekt. Ich habe genug Papiere gefunden, in denen steht, wie man im Labor versuchte, die Geschwindigkeit des Kunden zu messen: Wird er von bestimmten Böden beschleunigt oder verlangsamt? Wie überhaupt bewegt er sich durch einen Raum und wie kann die Raumgestalt seine Bewegung und sein Empfinden leiten, wie kann die Möblierung ihn führen? Es kommt aber darauf an, Untersuchungen zu finden, die heute unternommen werden: Untersuchungen eigentlich zur Taylorisierung des Verbrauchers. Die Produktion und zunehmend der Vertrieb sind schon »szientifiziert« - nun ist dieser letzte Bereich dran. Wobei diese Wissenschaft deutlich auch eine magische Praxis ist, eine Legitimation und Selbstvergewisserung. Hüser: Was ist für dich ein Kriterium für Themenhaftigkeit? Wenn ich an einen Film denke wie den von Jean-Pierre Gorins »Routine Pleasures« - fünf alte Männer warten eine Modelleisenbahn -, dann ist das ein toller Film, aber man weiß gleich, dass der nicht von dir sein kann. Vom Thema her nicht. Nun könntest du mit deinen elaborierten Verfahren ja alle möglichen Formen von Arbeit beobachten. Gibt es einen gemeinsamen Nenner deiner Filme? Was würde dich auf der Stelle packen? Farocki: Voraussetzung für diese Recherche-Arbeit ist die Lust am Detail, wie man das aus den amerikanischen Detektivgeschichten kennt. Dass die Polizei das Kürzel PMS für »politisch motivierte Straßengewalt« benutzt und dass es verboten ist, Hochgeschwindigkeitsreifen zu flicken. Ich interessiere mich sehr für die Herkunft von Wörtern. Ich schlage das gerne nach, das führt zu vielen Geschichten, aber damit baut sich keine Kenntnis auf. Ein Filmemacher hat eben kein Feld, darum diese Detailbesessenheit. Hüser: Wie sieht die Recherche auf der Bildebene aus? Es gibt dieses Spielchen, das Carl Schmitt gern mit seinen Gästen gespielt hat, sie sollten doch mal sagen, wegen welchen Satzes dieses und jenes Buch geschrieben worden sei. Das ist zwar stumpf hermeneutisch, die forcierte Logik der Haupt- und Nebenstellen, kann aber trotzdem manchmal ganz produktiv sein. Könntest du bei Filmen von dir sagen, wegen welchen Bildes du den Film gemacht hast? Gibt es zum Beispiel jetzt schon ein Bild, das zentral sein wird im Rahmen der Mall-Geschichte? Farocki: Nein, von einem Bild gehe ich nicht aus. Im Falle von »Videogramme« ging ich von einer vorgestellten Situation aus. Ich las das Buch von Amelunxen und Ujica über die Revolution in Rumänien und dachte an einen Film, in dem ein paar Leute vor Monitoren sitzen, verschiedene Bildfolgen anschauen und analysieren, so wie man in einem Seminar Sequenzen am Schneidetisch bespricht. Der Film wurde dann ganz anders. Bei den Malls ist das anders. Malls kann man ja nicht filmen, die sehen dann aus wie Junk-Mail, da ist es sogar noch leichter, Bratwürste abzubilden. Es kann nur darum gehen, die Produktion von Malls zu zeigen, Ereignisse zu finden, in denen die Malls vorstellbar werden. Hier ist also nicht ein Bild, sondern die Verlegenheit der Ausgangspunkt, die Unmöglichkeit, ein bestimmtes Bild zu machen. Hüser: Könntest du dir so ein Kooperationsmodell - mehrere Filmemacher, die Arbeitssituation am Schneidetisch, intelligente Leute gucken sich was aus verschiedenen Perspektiven an -, noch weiter gehend als Textform vorstellen? Ich finde es schade, dass es die alten Omnibus-Filme nicht mehr gibt. Neulich lief »Loin de Vietnam« im Fernsehen und das war schon toll. Hältst du das für eine tote Form oder könnte das heute vielleicht wieder eine Herausforderung sein? Wenn ich mir so meine Lieblingsregisseure alle auf einem Haufen vorstelle ... Farocki: Bei »Deutschland im Herbst« gibt es die Zusammenarbeit oder den Zusammenstoß von Kluge und Fassbinder, das macht den Film interessant, auch wenn manche Beiträge furchtbar sind. Kluge ist ja zu monoman, als dass man mit ihm zusammenarbeiten könnte. Er ist wie Kraus mit seiner Fackel, man müsste eine andere Zeitschrift aufmachen. Anfang der Neunziger habe ich versucht, eine Art Medienmagazin anzustoßen. Wir kamen damit nicht durch, das heißt, wir fanden dafür keinen Programmplatz. Aber schlimmer noch: Wir verstanden es nicht, eine Gruppe zusammenzukriegen, die es skandalös erscheinen lässt, dass wir die Mittel für unser Vorhaben nicht gekriegt haben. Hüser: Könntest du in Bezug auf die Geschichte deiner Projekte eine kurze Skizze der Geschichte deiner Ansprechpartner entwerfen? Mich würde eine Geschichte der großen Ermöglicher hinter euch Autorenfilmern interessieren. Eine Heroengeschichte der Werner Dütschs. Wie sehen in diesem Bereich die Verschiebungen zur heutigen Fernsehlandschaft aus? Farocki: Fangen wir beim Schluss an: Es ist nicht vorstellbar, die Kräfte zu bündeln. Es ist nicht in Sicht, dass alle interessanten Leute, Autoren wie Produzenten, an einem Sender zusammenarbeiten und damit einen Grund legen, auf diesen Sender zu achten. Was zum Beispiel Inge Classen und andere auf 3sat zeigen, hat mit dem übrigen Sender nicht viel zu tun, der eine Abladestelle für allerlei Zulieferanten ist. Und was Werner Dütsch und die Filmredaktion beim WDR machen, das ragt ja wie ein Fremdkörper aus dem Übrigen. Auch bei Arte - man kann sich nicht sicher sein, dass es für jeden Beitrag einen Grund gibt. Vielen Sachen da sieht man an, dass sie nur Platzhalter für den Anspruch eines der vielen Zulieferer sind. Dann sieht man wieder so ein merkwürdiges Feature über den Kaukasus, wo man sich doch fragt, ob man das nicht genauso gut im Bayrischen Rundfunk, nachmittags um zwei, sehen könnte. So richtig gut gearbeitet ist es nicht, und man möchte fast schon spenden, damit der Laden noch erhalten bleibt. Und wie bei den meisten Zeitschriften gibt es ständig dieses routinierte Überspielen von Verlegenheiten. Hüser: Das heißt wiederum, wenn diese Redakteure und Redakteurinnen pensioniert werden, ist mit einem Schlag ein ganzer Typ Filme weg? Farocki: Beim WDR sieht es wohl so aus, dass sie die Filmredaktion abschaffen werden, wenn die heutige, schon verkleinerte Belegschaft die Altersgrenze erreicht. Man hat denen auch schon 50 Prozent des Etats gestrichen und statt des kinemathekarischen Programms von einst gibt es jetzt jede Menge Heinz-Rühmann-Filme. Auch beim 3. Programm des NDR kann man sich Klaus Wildenhahn nicht mehr vorstellen zwischen den plattdeutschen Hafenkonzerten. Ich habe immer am Rande des Programms produziert und das geht nicht mit dem Programm, das jetzt aufkommt. Bestimmte Obdachlose schaffen es nicht, zum Flugplatz umzuziehen, wenn der Bahnhof geschlossen wird. Womit nicht gesagt sein soll, der alte Bahnhof wäre was Tolles gewesen. Hüser: Wie hilfreich ist die Kategorie des »Essayfilms«? Tilman Baumgärtel unterscheidet in seinem Farocki-Buch (»Vom Guerillakino zum Essayfilm«, Berlin 1998) bei deinen Filmen zwischen Lehrfilmen, Autorenfilmen, Beobachtungsfilmen, Essayfilmen und Found-Footage- Filmen. Essayfilme sind »Wie man sieht«, »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«, »Was ist los?« und »Schnittstelle«. Von den anderen Unterscheidungen mal abgesehen: Was soll Essayfilm eigentlich heißen? Nicht richtig »Film«? »Gehobener« Film? Richtet man da nicht eine Kategorie für etwas ein, das sich auf der Ebene des Films immer grundsätzlich als Problem stellt? Warum ist »Arbeiter verlassen die Fabrik« kein Essayfilm? Oder »Nicht löschbares Feuer«? Oder warum sind deine Beiträge für »Sesamstraße« keine Essayfilme? Oder »Faces« von John Cassavetes? Farocki: Die Kategorie ist so untauglich, wie auch »Dokumentarfilm« nicht besonders tauglich ist, klar. Wenn im Fernsehen viel Musik gespielt wird, und man sieht Landschaften, dann nennt man das mittlerweile auch schon Essayfilm. Viel Stimmungsmäßiges und nicht eindeutig Journalistisches ist schon Essay. Das ist natürlich furchtbar. Das ist so vage, wie damals die Versuche in den fünfziger Jahren. Damals hat Enzensberger mal darüber geschrieben, dass der naturwissenschaftliche Begriff des Experiments überhaupt nicht taugt für den Kunstbetrieb. So ähnlich vage ist auch dieses Wort vom Essay geworden. Aber mir geht es immer noch darum, dass Erzählen und Erörtern zusammengehören, dass die Diskurse eine Erzählform sind. Der Zweite Weltkrieg ist nicht in einen Roman von einem neuen Tolstoj eingegangen, eher in die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno. Hüser: Denkst du stark in Textsorten? Wie sieht es aus mit Hybridisierungen? Mit dem Wechsel von Textsorten? Farocki: Im letzten Winter machten Kaja Silverman und ich ein Seminar in Berkeley. Es ging um Filme aus Stills, Filme aus unbewegten Bildern. Wir sahen uns solche Filme an und die Studenten bekamen Gelegenheit, solche Filme zu machen. Ich war vom Ergebnis überwältigt. Einige Filme waren toll, und mehr als die Hälfte interessant, das ist ja mehr als man bei einem Festival erwarten kann. Das liegt an dem Gegenstand. Wenn man aus Fotos oder anderen Bildern etwas macht, dann konkurriert man nicht mit der allgegenwärtigen Erzählmaschine. Wenn man einen Jungen zeigt, der ein Mädchen im Café anspricht, hat man es gleich mit den Standards zu tun: Sieht es aus wie Neighborhood TV oder wie ein Independent oder wie ein Studentenfilm? Wenn es darum geht, Bilder anzuordnen, aus ihnen etwas herauszulesen, dann zeigt sich eine neue Kompetenz. Es gibt eine neue Geübtheit, im Computer Bilderfolgen und Schrift einander anzunähern. Vielleicht entsteht da etwas. Helmut Färber schrieb, der Film sei den Tonsprachen ähnlich, wo es eher auf die Intonation als auf die Syntax ankomme, ein solches neues Idiom entsteht da vielleicht. Hüser: Heißt das, es wird auf kurz oder lang den klassischen Unterschied zwischen den Filmakademien und den Filmwissenschaftsdepartments nicht mehr geben, wo »Rezeption« und »Produktion« so sorgfältig voneinander getrennt sind? Farocki: In Berkeley gibt es eigentlich keine Filmproduktion, nur film studies. Das Produzieren von Filmen ist nicht dazu da, das Filmemachen zu lernen, sondern das Filmverstehen zu lernen. Jeder, der Literatur studiert, schreibt auch, nicht um Schriftsteller zu werden, sondern um mehr vom Schreiben zu verstehen. Ein Verstehen durch Annäherung, wie wir das mit den Remakes besprochen haben (Jungle World, 45/00). Hüser: 1998 hast du im Supplement der Weihnachtsausgabe von Jungle World einen Text zu Holger Meins veröffentlicht: »Sein Leben einsetzen«. Für einen Zeitungstext ein ungewöhnlich konzipiertes Dossier. Es funktionierte wie ein unaufgeschnittenes Buch, wenn man es sich entsprechend zusammenfaltete. Mit Seiten, die einander gegenüberliegen. Warum hast du dein Buch 68 zu diesem Zeitpunkt aufgeschnitten? 30 Jahre? Farocki: Ich will 68 nicht schlecht machen, aber ich habe doch ziemlichen Katzenjammer. Ich habe mal gelesen, dass das Volk zu Beginn der Französischen Revolution rief: Es lebe der König! - und damit den Sturz der Monarchie ausdrücken wollte. So kommt es mir vor: Wir sagten etwas ganz anderes, als wir meinten, und heute macht es den Anschein, wir hätten das Richtige gewollt. Das ist ein wenig so wie mit meinem Film »Nicht löschbares Feuer«, dass ich gegen meine Absichten etwas erreichte. (Ich möchte natürlich lieber etwas mehr erreichen als gewollt, aber nicht etwas ganz anderes.) Wir glaubten oder postulierten das zumindest, dass es möglich ist, »Geschichte zu machen«. Deshalb verharmlosten wir das Nazitum, es war uns höchstens nützlich, den Kapitalismus anzuschwärzen, dessen »höchstes Stadium« es sein sollte. In dieser Weise waren wir unwillentlich unserer Elterngeneration ähnlich, die den Hitlerismus schnell hinter sich bringen wollte. Hüser: Dass der Nationalsozialismus nicht mehr nur der preußische Offizierswiderstand war, war ja ein Fortschritt. Ich fand neulich die Einschätzung des Leiters des Literaturarchivs in Marbach gut, eigentlich ein konservativer älterer Beamter: Die 68er seien die letzte Generation von Lesern gewesen. Farocki: Ja, 68 war ja wohl eine Kulturrevolution, die die Ethik der Vorkriegszeit überwand. Diese Ethik in vielfältiger Gestalt lässt sich wohl mit dem Wort austerity treffen: Sparsamkeit, Verzicht, Disziplin. Diese Lebenshaltung entsprach den Verhältnissen nicht mehr, und Pop sprengte das auf. Zum Nachdruck brauchte das etwas Blut: Straßenkämpfe, Flugzeugentführungen, Attentate. Man kann sagen: Blut für Pop. Und was Holger Meins betrifft: Sein Film »O.L.«, der bleibt ja nun irgendwie, und der ist überhaupt nicht in Beziehung zu setzen zu allem, was Holger Meins gemacht hat. Das einzige, was man sagen könnte, ist: Er sah, dass er wusste, wie das Filmemachen geht, und deshalb interessierte es ihn nicht mehr. Jungle World 45-46/2000 http://www.jungle-world.com/_2000/45/15a.htm http://www.jungle-world.com/_2000/46/15a.htm /* see also: "Ich glaubte Gefangene zu sehen" http://rolux.org/archive/archive.php3?message=904 Harun Farocki: Kontrollblicke http://rolux.org/archive/archive.php3?message=262 Harun Farocki: Amerikanische Einstellung http://rolux.org/archive/archive.php3?message=234 */ ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive