________________________________________________________________________________ Frankfurter Allgemeine Zeitung Donnerstag, 12. Oktober 2000 Seite BS 3 Was das Internet über uns weiß Ein Abend über Personalisierung und Kontrolle Dieser Bericht ist entpersonalisiert. Sie lesen also dasselbe wie alle anderen Leser. Sie glauben, das sei selbstverständlich? Sie werden sich umstellen müssen. In Zukunft erfahren Sie nur noch Dinge, von denen man weiß, daß Sie sie interessieren. Vorausgesetzt, Sie akzeptieren Cookies. Dem Lexikon nach heißt Cookie nichts weiter als “Keks”. Im Jargon des Internets bezeichnet man als Kekse kleine Datenpakete, die auf dem Computer der Surfer abgelegt werden. Zum Beispiel: session-id=102-7358806-9057766. Ein Großteil aller kommerzieller Seiten verfolgt die Besucher mit solchen “Cookies”, um sie beim nächsten Besuch wiederzuerkennen und ihre Vorlieben und Einkäufe zu beobachten. Cookies lassen sich leicht sichtbar machen, wenn man im Browser unter der Rubrik “Einstellungen” einträgt, daß man gefragt werden will, bevor ein Cookie auf die Festplatte geschrieben wird. Von da an wird das Surfen endgültig zu einer holprigen Angelegenheit, bei der Sie sich Ihren Pfad durch einen Dschungel von Cookies bahnen müssen. Akzeptieren Sie Cookies? Dann könnte Ihnen beispielsweise folgendes passieren: Ein Stammkunde eines großen Internet-Händlers stellte kürzlich erstaunt fest, daß das Angebot nicht nur wie gewöhnlich seinen persönlichen Bedürfnissen angepaßt war, sondern auch die Preise. Die personalisierten Sonderpreise lagen allerdings über den Preisen, die die übrigen Käufer für die gleichen Dinge zu bezahlen hatten. Wer etwas gern hat, muß dafür schon einmal tiefer in die Tasche greifen. Mit Informationen verhält es sich ähnlich. Wüßte man etwas darüber Bescheid, daß Ihnen der Weihnachtsmann wichtiger ist als das Internet, fänden Sie an dieser Stelle ein Rezept für Ihre Lieblingskekse. Vielleicht wird man sich in wenigen Jahren fragen, wie ein Leser am Ende des 20. Jahrhunderts überhaupt zu den richtigen Informationen kam – war er doch einer Flut von Nachrichten ausgesetzt. Das wird sich ändern. Allmählich muß man sich wohl von der Vorstellung verabschieden, daß man im Internet immer dasselbe wie alle anderen findet. “Personalisierte Seiten kennzeichnen”, forderte man am Dienstag in der kleinen Diskussionsrunde im Seitenflügel des ehemaligen Telekom-Gebäudes an der Ziegelstraße, und: “Medienkompetenz entwickeln”. Daß ein öffentlicher Text Gleichheit garantiert, ist eine der Grundannahmen, mit denen man Informationen gegenübertritt. Das war nicht immer der Fall. 1485 ließen die Domherren von Regensburg ihr Meßbuch drucken. Ein neues Medium kam zum Einsaz, und das Ergebnis wurde einer sorgfältigen Prüfung unterzogen. Einzeln ließ der Bischof jedes Exemplar prüfen, und es stellte sich heraus, daß sie allesamt auf den Buchstaben genau übereinstimmten. Das Internet kehrt nicht ins Zeitalter der Handschriften zurück, aber verläßt doch zielstrebig den seit Buchdruck geläufigen Umgang mit Daten. Cookies sind nur eine von vielen Strategien der Identifizierung, mit denen dem weltweiten Datennetz ein Geflecht von kleinen Grenzen und Kontrollen eingewoben wird. Der erste Reflex auf solche Techniken ist Abwehr. Seit geraumer Zeit gibt es Programme, die den Nutzer vor Cookies schützen. In der kleinen Runde selbsternannter Experten, die sich auf Einladung von www.rolux.org bis Mitternacht unter dem grellen Neonlicht versammelt hatten, war man sich nicht sicher, ob Paranoia die richtige Antwort auf Cookies ist. “Kontrolle positiv denken”, hieß es plötzlich. Vielleicht bringt die Zukunft einen Wettlauf zu dem Netzanbieter, dessen Kontrolle am besten trifft, der schon immer im voraus weiß, was der Nutzer will, und ihm lästige Entscheidungen abnimmt. Auf der anderen Seite drohen Exzesse der Kontrolle. Noch ergeben die Cookies kein einheitliches Abbild einer Person, da jeder Anbieter nur die Wege auf der eigenen Seite verfolgt. Wer im Netz surft, zerfällt in Tausende von Teilpersönlichkeiten, die an verschiedenen Stellen verwaltet werden. Wenn es aber gelänge, alle Kekse auf einen Haufen zu werfen und daraus ein Individuum zusammenzufügen, wäre der gläserne Netzbürger perfekt. Stefan Heidenreich ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive