________________________________________________________________________________ Jungle World 27/00 Unterwegs im biopolitischen Raumschiff Eine französische Zeitschrift macht sich auf den Weg in die Galaxien minoritärer Kämpfe: Wie denkt man ohne Dialektik, wie kämpft man ohne Partei, wie begreift man Biomacht und Kontrollgesellschaft? Mit multitudes-Mitherausgeber Maurizio Lazzarato sprach Stephan Geene Anfang der neunziger Jahre untersuchte eine Gruppe italienischer und französischer Theoretiker um Antonio Negri und Maurizio Lazzarato die ökonomischen und ästhetischen Strategien des Benetton-Konzerns. Ihre Diagnose lautete: Benetton sei ein Konzern ohne Fabrik, ohne Arbeiter, ohne Distributionsnetz. Dabei konzentriere sich das Unternehmen auf zwei Dinge: die Meta-Koordination der Produktions- und Finanzströme von Subunternehmen, Zulieferern und Franchisern sowie die Produktion eines Werbe-Images, das kein Produkt vermarktet, sondern einen Lifestyle. Daraus zogen sie den Schluss, dass sich das Kapital allmählich aus den Bereichen Arbeitsanweisung und Fabrikdisziplin zurückziehe und den Subjekten schrittweise die ambivalente Freiheit der ökonomischen und sozialen Selbstorganisation lasse. Die Benetton-Studie war Teil einer Renaissance des operaistischen Marxismus, der in den sechziger und siebziger Jahren nach Re-Lektüre der Marxschen »Grundrisse« beobachtete, wie die Klasse die Fabrik verließ und die politischen Kämpfe in die Straßen, WGs, Schulen und Beziehungen trug. Der Neunziger- Jahre-Postoperaismus suchte nach neuen Autonomien und Aneignungsbewegungen im postfordistischen Akkumulationsregime und fand immaterielle ArbeiterInnen der Computer- und Kulturindustrie, streikende Bedienstete des öffentlichen Dienstes und Hacker. Teile der postoperaistischen Theorie-Szene der neunziger Jahre, die früher die Zeitung Futur antérieur herausbrachten, haben in Paris ein neues Zeitschriftenprojekt - multitudes - gegründet, das sich vom dialektischen Denken des Marxismus verabschiedet. Das erste Heft handelt von den Themen Biopolitik, Saatgutpatentierung, Open Source Software. Schwerpunkt ist die theoretische Analyse der Lieblingsbegriffe der Redaktion: Macht, Multiplizität, Multitude. Es schreiben Antonio Negri, Michael Hardt, Eric Alliez, Bruno Latour, Isabelle Stengers u.a. In Paris ist gerade die erste Nummer der Zeitschrift multitudes erschienen. Der Titel geht auf einen Begriff zurück, den der Theoretiker Antonio Negri als Vielheit definiert hat, als einen gesellschaftlichen Zustand, in dem es keine homogenen Klassen gibt. Wie kann sich eine Zeitschrift auf eine solche Utopie positiver politischer Heterogenität beziehen? Der Titel multitudes ist das Programm der Zeitschrift. Wir glauben, dass das Thema des Sozialen heute weder mit der Ideologie des Liberalismus und dessen Bezug auf das Individuum identifiziert werden kann noch mit den kollektiven Formen der sozialistischen Politik und des sozialistischen Aktivismus. Die Zeit dieser beiden großen Positionen des letzten Jahrhunderts ist zu Ende. Wir beziehen uns auf das Konzept der multitude, weil es Handlung weder vom Subjekt noch vom Kollektiv aus denkt. Wir arbeiten dabei mit einer These von Michel Foucault, der in den siebziger Jahren die Theorie der Macht grundlegend erneuert hat, indem er in den Begriff der Macht den Begriff der Multiplizität eingeführt hat: Die Formen der Macht sind multipel und diffus. Es gibt kein Zentrum, das diese Formen organisiert. Analog dazu gibt es in der Gesellschaft eine Vielheit der Kräfte, die gleichermaßen die Verhältnisse Mann-Frau, Chef- Arbeiter, Lehrer- Schüler usw. durchzieht. Diese Multiplizität interessiert uns. Diese Vielheit produziert die Reichtümer der Gesellschaft. Sie stiftet die sozialen Beziehungen. Sie produziert das Politische. Multiplizität der Macht heißt, dass sie nicht einfach in den Händen von Kapital und Staat liegt. Macht wird ausgeübt und durchzieht alle Verhältnisse. Sie produziert Subjektivität und realisiert sich in institutionellen, ökonomischen und sozialen Praktiken. Genauso ist die von Machtpraktiken konstituierte Sozialität auch das Feld, auf dem gegen die herrschende Macht agiert wird: ein vielfältiger Ausgangspunkt von minoritären Politiken, autonomen Projekten, neuen Subjektivitäten. Die multitude hat für uns die Theorie des Liberalismus und des Sozialismus ersetzt. Beide beziehen sich auf den Staat. Beide benötigen eine transzendentale Organisation, die Staat heißt. Das ist ihr Problem. Daher sind sie nicht in der Lage, eine soziale Handlung außerhalb des Staates zu denken. Die erste Ausgabe Eurer Zeitung dreht sich um das Konzept der Biomacht. Dieser von Foucault übernommene Begriff sagt, dass der Souverän nicht mehr über Leben und Tod entscheidet, sondern dass die Macht heute Leben aktiviert, verwaltet, kontrolliert. Welche Veränderungen habt Ihr an dieser Theorie vorgenommen? Foucault ging davon aus, dass das Leben der Gegenstand der modernen Macht ist. Er beschrieb phänomenologisch und historisch, wie die Macht ins Leben investiert. »Leben« heißt Leben der menschlichen Gattung. Das ist sein wichtigster Punkt, der mit der Patentierung des Genoms und mit der Entwicklung der Biotechnologie, die direkt Leben wissenschaftlich-technisch und medizinisch-industriell zu modifizieren versucht, immer sichtbarer wird. Nun wäre es aber wichtig, Biotechnologie und Leben nicht gleichzusetzen. Wir interpretieren deshalb Leben als multitude, als Vielheit der sozialen Bezüge, die im Inneren des Konzepts der Biopolitik existieren. Was ist Biopolitik für Foucault? Biopolitik ist die Herrschaft, die Regierung über die Multiplizität. Es gibt einen Bruch im Begriff der Macht, der zwischen ihrer modernen Funktion und ihrer heutigen Konstitution verläuft. Dieser Bruch ergibt sich daraus, dass das Objekt der Macht selber multipel ist. Die Biopolitik ist gezwungen, sich mit dieser Vielheit auseinander zu setzen. Anders als in der marxistischen Theorie gibt es heute keine privilegierten Subjekte oder Agenten der Auseinandersetzung mehr wie Kapital und Arbeiterklasse. Für Foucault hat das dialektische Denken die Vielheit auf zwei Seiten eines Widerspruchs reduziert, während er sich dafür interessiert hat, wie die sozialen Verhältnisse und die Macht sich durch diese Vielheit hindurch konstituieren. Biopolitik und Biomacht sind die beiden Formen, die Vielheit des Sozialen zu regieren. Die erste Lektion der Foucaultschen Biopolitik- Konzeption besteht darin zu fragen: was bedeutet es, diese Vielheit zu reproduzieren? Dabei geht es um die Produktion der gesellschaftlichen Reichtümer, aber auch um die Organisation des Raums, des Lebens, der Sexualität, diese Komplexität der Dinge, die die Biopolitik definieren. Der Gegenstand der Biopolitik bzw. Biomacht ist das Leben in seiner Gesamtheit. Es geht um die Bedingungen der Reproduktion der Gattung, den Teil der materiellen Produktion, den Marx Reproduktion genannt hat, aber es geht auch um alles, was das Soziale betrifft: die Subjektivität, die Schule, das Gefängnis, die Komplexität der Verhältnisse, die uns interessieren. Wie lässt sich hier überhaupt von Regieren sprechen, wenn die Macht selber aus der Vielheit entsteht? Wer oder was kann dann aktiv eingreifen? Die Theorie der multitude weist die dialektische Sichtweise zurück. Was macht die marxistische Dialektik? Sie reduziert die multitude auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Sie kodifiziert sie entlang zweier gegensätzlicher Prinzipien. Sie denkt die politische Organisation entlang dieser Dialektik von Kapital und Arbeit. Dieses Denken ist reduziert. Es begrenzt den Blick auf die soziale Dynamik. Wie kann man multitude so denken, dass sie in ihrer positiven Perspektivierung nicht mehr auf diese Form der Organisation reduzierbar ist, auf die Organisation der Partei? Wie kann man die Vorstellung überschreiten, die die positive Organisation der sozialen Verhältnisse nur in der Organisation der Partei denken kann, sodass das Soziale schließlich mit der Organisation der Partei konvergieren muss? Wir denken demgegenüber, dass diese multitude der sozialen Ausdrucksformen die Kraft zur Selbstorganisation hat. Formen dieser Selbstorganisation existieren ja bereits. Woran denkst Du dabei? Das findet sicherlich nicht in einem Raum statt, der außerhalb kapitalistischer Verwertung steht, aber ich sehe dennoch Ansätze, wo Leute zu selbst bestimmten Produktionen kommen, in denen Kommunikation möglich ist und Netzwerke entstehen. Außerdem nimmt das zu. Sicherlich lässt sich das für Internetnetzwerke sagen, die Herstellung freier Software, aber auch für die Art und Weise, wie die Proteste in Seattle gegen die WTO-Tagung organisiert wurden. Die Zeitschrift geht der Frage nach, wie sich diese Selbstorganisation in einem politischen Raum koordinieren lässt, der kein durch den Staat kodifizierter politischer Raum ist? Wie lässt sich die Vielheit des Sozialen ohne transzendentale Referenz auf Staat oder Partei koordinieren? Die theoretische Utopie der Zeitschrift besteht darin, die multitude der Subjekte und ihre Formen der politischen Subjektivierung zu denken. Wir wissen nicht, wie das geht. Aber negativ gesprochen wissen wir, dass es keine Form der Subjektivierung der Klasse mehr gibt, wie wir sie in der industriellen Epoche gekannt haben, genauso wenig wie eine individuelle Form der Subjektivierung. Gleichzeitig wenden wir uns aber auch gegen postmoderne Konzepte der Subjektivierung, wie sie der Kommunitarismus vorschlägt, der Begriffe wie tribe oder Stamm benutzt. Könntest Du Eure Differenz zum Kommunitarismus konkretisieren? Die kommunitäre Politik ist identitär. In unserer Ausgabe zum Thema Biopolitik sind wir von Foucaults Diskurs ausgegangen, der sagt, dass das Interessante beispielsweise der homosexuellen Community nicht darin besteht, von minoritären Identitäten auszugehen, sondern von der Schaffung neuer Lebensformen. Diese Dynamik faltet sich nicht auf sich selbst zurück. Sie schließt sich nicht in die Definition einer Identität der Gemeinschaft ein, sondern ist auf neue Lebensformen geöffnet. Wie kann diese Dynamik, die keine identitäre ist, eine politische Organisationsform werden? Wir versuchen, mit der Zeitschrift die Frage zu stellen, wie die multitude ein politischer Gegenstand werden kann. Von Biomacht ausgehend, analysiert Ihr Veränderungen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Die neuen Formen der Subjektivität, von denen Ihr sprecht, sind für Euch ja auch wesentlich Effekt neuer Arbeitsformen. Ihr zielt aber auch auf empirische Subjekte, auf neue AkteurInnen bei den großen Demonstrationen seit Mitte der neunziger Jahre: Pfleger, Krankenschwestern, Bedienstete des öffentlichen Dienstes. Wie sieht für Euch das Neue dieser Subjektivität aus? Die klassischen Formen der politischen Organisation, selbst die kommunitären, lassen die Individuen nur an einer einzigen politischen Organisation teilhaben. Das kann die Gewerkschaft sein oder die homosexuelle Gemeinschaft. Wir denken dagegen, dass ein Subjekt Teil unterschiedlichster Organisationen sein kann. In diesem Sinne geht es mehr um Singularität, also um die Frage, inwiefern die multitude den besonderen Formen der singulären Subjektivierung dient. Es geht um eine Multi- Zugehörigkeit, um die Möglichkeit der Mobilität im Zentrum der politischen Organisationsformen. Ist das nicht zu reduziert, von Subjektivität nur im Sinne von Multi-Zugehörigkeit zu politischen Organisationen zu sprechen? Der Begriff der Subjektivität, wie er beispielsweise von Félix Guattari verwendet wird, auf den Ihr Euch stark bezieht, ist wesentlich weitgehender. Und Euer Einsatz von »neuen Subjektivitäten« suggeriert auch größere Versprechungen als praktische Organisationsfragen. Die Zugehörigkeit zu Organisationen hat auch etwas mit den Ausdrucksmöglichkeiten von Subjektivität zu tun. Wie kann sich die multitude mit neuen Formen des Widerstands verbinden, wenn Ihr diese Vorstellung in Eurer eigenen Zeitschrift nicht realisiert? Wenn Biopolitik alle Ebenen des Sozialen durchläuft, dann gehören dazu auch die Verhältnisse zwischen Text und Autorschaft, die Hierarchien und Zulassungsbedingungen einer Redaktion, männliche Dominanz unter den Publizierenden, männliche Dominanz in der Platzierung nicht-diskursiver Beiträge wie künstlerischer Arbeiten und deren ästhetischer Ansatz. Die Zeitschrift hat eine männliche Mehrheit und wird von Intellektuellen dominiert. Das ist richtig. Die Zeitschrift besteht aus einer merkwürdigen Mischung aus Theoretikern und Aktivisten von AC! und auch von ActUp. Sie versucht, verschiedene Denkformen und Sensibilitäten innerhalb der Redaktion zuzulassen. Aber erst einmal stimmt es, dass die Struktur recht traditionell ist. Für die erste Nummer ist es uns nicht gelungen, das anders zu organisieren - auch ästhetisch nicht: Wir haben die ästhetische Seite an einen Künstler delegiert, der ein klassisches und personales Konzept von Kunst hat. Aber Ihr habt Interesse, das weiterzuentwickeln? Es gibt eine interne Debatte darüber. Wir haben uns automatisch auf theoretische Texte konzentriert, die ästhetische Seite wurde etwas vernachlässigt. Das ist ein klassischer Reflex, denke ich. Die ästhetische Frage ist ja nicht auf die Frage nach dem Platz der Kunst zu beschränken. Wenn Biopolitik darin besteht, als Textur alle Niveaus des Sozialen mitzumeinen, dann wäre es wichtig, diese Bezüge auch in der Zeitschrift zu thematisieren, also über den Bezug des Texts zum Autor zu sprechen, die Autorität des Autors zu dekonstruieren genauso wie die Identität von Text und Autor. Ja, das haben wir nicht gemacht. Ihr habt im ersten Heft weitgehend auf ökonomische Analysen verzichtet, obwohl Analysen von Arbeit, Postfordismus und neue Formen »immaterieller Arbeit« für die meisten der multitudes-Autoren sehr wichtig waren. Die Forderung nach Existenzgeld, wie Ihr sie diskutiert, ruft doch im buchstäblichen Sinne multiple Register auf, die Soziales, Lebensstile und ökonomische Entwicklungen betreffen und auch von einem Begriff wie Biomacht nicht zu trennen sind. In der nächsten Nummer wird es um das Problem einer Kritik der politischen Ökonomie gehen. Da werden wir darüber sprechen, wie es sich der Krise der bürgerlichen Ökonomie und ebenso der Ökonomie, wie sie Marx dachte, entkommen lässt. Wie kann man von dieser Überlegung ausgehen und diese Konzepte im Lichte der multitude kritisieren? Wenn wir in der ersten Nummer gezeigt haben, wie die Vielheit der Subjekte die Macht konstituiert, dann wollen wir in der nächsten Nummer analysieren, wie die multitude der Subjekte die Produktion der Reichtümer konstituiert. Das sind eben nicht nur Kapital und Arbeit im Inneren der Fabrik. Wir wollen die Palette der ProduzentInnen von Reichtum erweitern und den Diskurs über das Existenzgeld dort einführen. Die multiplen ProduzentInnen der Reichtümer korrespondieren mit dieser Form der multitude. Gibt es gegenwärtig eine politische Situation, die zu einem solchen Ansatz ermutigt? Auch in Frankreich befinden sich viele politische AkteurInnen in einer Phase der Defensive. Die neuen sozialen AkteurInnen verhalten sich anders als die der industriellen Epoche. Damals gab es Kontinuitäten in der Zeit, die durch Gewerkschaften und Partei vermittelt waren. Die multiplen Subjekte tauchen zu Themen auf und verschwinden wieder. Interessant ist, dass sie viel flexibler sind und schwieriger zu greifen. Die klassische Lektüre kann das nicht erkennen. Das ist ihre Grenze. Ich glaube, dass die wichtigen Kämpfe eine begrenzte Dauer haben wie die Schulkämpfe vor kurzem. Dort gingen nicht nur die LehrerInnen auf die Straße, sondern auch die Eltern und die SchülerInnen. Bei Lehrern, Eltern und SchülerInnen, die gemeinsam auf die Straßen gehen, sehe ich wenig an »neuer Subjektivität« - jedenfalls nicht in einem sehr interessanten Sinne. Das sieht von außen so aus, auf unserer Mailingliste gibt es einige, die das von innen her betrachten und die berichten von erstaunlichen Ergebnissen. Kannst Du Beispiele nennen? Ich will jetzt lieber nichts Dummes sagen. http://www.jungle-world.com/_2000/27/28a.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org