________________________________________________________________________________ Spex 3/2000 Die nützliche Bedrohung Tom Holert Wo liegen die Widerstandspotenziale begraben, im Angesicht der AOL-Time-Warner-EMI-Fusion? Ein Gegenentwurf zur vorherrschenden Erzählweise des Naturgemäßen. Die Skala der Reaktionen auf die Verkündung des "Mega-Merger" zwischen AOL und Time-Warner vom 10. Januar 2000, dem einige Tage später die Nachricht von der Übernahme des Musikkonzerns EMI in das neue Konglomerat folgte, reichte von vollmundiger Empörung bis zu nackter Angst, von echter Bewunderung bis zu amüsiertem Einverständnis, von Spekulationswut bis zu Depression. Gemeinsam aber war fast allen Kommentaren das allergrößte Verständnis für die Absichten hinter dieser Superfusion. Denn naturgemäß sei es nachvollziehbar, dass sich der Online-Dienst AOL, der vor allem über Transportwege und Kundenkartei verfüge, mit Lieferanten von "content", also von Nachrichten, Unterhaltung, Lizenzen (Time-Warner, EMI) sowie den dazugehörigen TV-Kanälen und Tonträgerfabriken, zusammentue; naturgemäß gehe es darum, die Marktanteile in jeder Richtung zu erhöhen und eine komplette Wertschöpfungskette (also nicht nur horizontal, sondern auch vertikal integrativ) aufzubauen; naturgemäß dränge die Entwicklung von Medien und Kommunikationstechnologie zu immer größerer Verdichtung und Verschmelzung, weshalb jetzt auch die Übernahme der Telefongesellschaft AT&T nicht mehr ausgeschlossen werden dürfe; naturgemäß seien diese verkoppelten Prozesse des Fusionierens (ökonomisch) und Konvergierens (technologisch) nicht mehr kontrollierbar, schon gar nicht von den einfachen User-Subjekten vor den Heimbildschirmen (die anderen, ohne Bildschirme, fallen ohnehin aus allen Rechnungen heraus, naturgemäß). Klar, es gibt auch Mahner. Die Konkurrenz, wie Summer Redstone, der Chef des vor kurzem mit CBS zusammengegangenen Viacom-Konzerns, redet von AOLs "aufgeblähtem" Börsenwert und den Risiken eines derartigen Mergers. Die netzaktivistische Seite meldete sich ebenfalls mit Bedenken. Kurz nach dem AOL-Time-Warner-Deal gab es in der Mailing-List 'nettime' den Versuch, ein "Anti-Merger-Statement" zu verbreiten, doch kam dieses Papier, das vor der demoktratie-zersetzenden Wirkung der Fusion warnte, nicht über das Entwurfsstadium hinaus. Dafür treten amerikanische Politiker in Aktion. Senator Patrick Leahy (www.senate.gov/~leahy/releases/0001/0110_4144.html) fragt sich, ob "dieses ganze Konzentrieren und Konvergieren nicht Folgen für die Konsumenten impliziert, weil es Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten minimiert, sowie weniger Stimmen erlaubt und weniger Pipelines zuläßt, die in den Markt hineinführen." Auch die Europäische Union hat bereits leise Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Mergers geäußert, ebenso das Kanadische Industrieministerium. So ergänzen sich die Kritiker der ökonomischen Strategie und die Kritiker einer monopolistischen globalen Kommunikationsregie zu einem fragilen Chor der Einwände, die sich bis zu den Editorial-Autoren der Computerzeitschriften, besorgt um die konsumdemokratischen Rechte ihrer Klientel, oder den Anhängern von "AOL sucks"-Kampagnen herumsprechen und in vereinzelten Verweigerungsgesten (z.B. den eigenen AOL-Account abmelden) münden. All diese größeren und kleineren Widerstände verblassen aber vor der allgemeinen - eingestandenen oder uneingestandenen - Faszination angesichts jenes erhabenen Naturereignisses, als das der laufende Konzentrationsprozess in der Medien- und Kommunikationsindustrie derzeit wahrgenommen wird. Selbst dort, wo man die Rede von der "Schreckensvision" einer neuen, durchkommerzialisierten Konvergenz-Ära noch dann und wann bemüht, wird wenig Zweifel daran gelassen, dass man sich wohl wird "abfinden müssen" mit diesen Zuständen. 'De:Bug' flüchtet sich in neckische Analogien ("Teletubby Land"), während die 'Jungle World' das "AOL überall"-Programm mit tristen Aussichten auf den Verlust von "kartellrechtlicher Transparenz wie auch journalistischer Unabhängigkeit" in Zusammenhang bringt. Die Frage, was eigentlich "zu tun" sein könnte, in dieser Lage, wird immer wieder aufgeschoben. Dabei wachsen mit jeder Superfusion zumindest die rhetorischen und semiotischen Möglichkeiten von kulturpolitischen Demonstrationen. Wenn es je eine Gelegenheit gegeben haben sollte, das Duo Kulturkritik-&-Indie-Philosophie wieder aufleben zu lassen, dann ist sie mit Hyper-Feindbildern wie AOL-Time-Warner-EMI, Disney, Viacom-CBS oder (demnächst?) Bertelsmann-Sony Music (bzw. Bertelsmann-Seagram) gekommen. Nicht nur der gigantische Homogenisierungsdruck, sondern auch die schiere Unausweichlichkeit des Angebots dieser Kommunikationstrusts im Alltag der nahen, allzu nahen Zukunft, müssten geeignet sein, eine Mobilisierungsenergie freizusetzen, die sich letztlich reiner Frustration verdankt. Dabei sollte man sich weniger um die "Effektivität" etwaiger Aktionen und Solidarisierungen scheren, als Modelle der Analyse und Beschreibung der kulturell-technologischen Machtstrukturen entwickeln. Für den Moment ist entscheidend, die Selbstverarschungsmuster vergangener Perioden der Kulturpolitik und Kulturkritik von vornherein zu verhindern, ohne durch ein Zuviel an wohlfeiler Selbstreflexivität wiederum an Handlungsfähigkeit einzubüßen. Worauf immer wieder, bis zur Ermüdung, hingewiesen werden sollte, sind die unmittelbaren und mittelbaren sozialen Folgen der Vertrustungsprozesse: Wo werden Jobs wegrationalisiert, welche neuen Konzepte von Arbeit setzen sich durch, welche Formen der Entwurzelung und Dislozierung lassen sich beobachten, wer diktiert die Preise (für die Löhne und die Produkte), wie genau werden bestimmte kulturelle Haltungen und Verabredungen in den komplizierten Netzwerken einer sich einerseits uniformierenden, andererseits konstant individualisierenden Ökonomie lanciert? "Wer sind diejenigen, die interagieren, und wer diejenigen, die interagiert werden in dem neuen System?", fragt der spanische Soziologe Manuel Castells in seinem Buch "The Rise of the Network Society" (1996). Und tatsächlich nähert sich diese Frage (nach der Art und Weise von Absenz oder Präsenz in einer Gesellschaft, die nur noch die elektronisch gewährleistete Repräsentation als triftige Repräsentation anerkennt) mit jedem Megamerger einer Antwort, Diese kann natürlich nicht lauten, dass die Kulturproduktion lediglich vereinheitlicht werde und folglich veröde (was sie natürlich häufig genug tut), sondern sie kann darüber informieren, wie Inklusion und Exklusion in einer On-Demand-Welt geregelt werden, welchen Disziplinierungen ein von AOL-Time-Warner-EMI & Co. dominiertes digitales Environment die Leute innerhalb und außerhalb dieses Environments unterwirft. Mit anderen Worten: Nicht die Tatsache, dass eine bestimmte Platte irgendwo aus der Labelstruktur eines Unterhaltungs- und Kommunikationstrusts kommt und den CD-(oder MP3-)Player des um Korrektheit bemühten Indie-Konsumenten mit ihrer Herkunft beschmutzt, ist das Problem, sondern die Tatsache, dass alles, was mit diesem Vorgang sonst noch so einhergeht, unterbelichtet bleibt. Der "reine" Genuss ist nicht zu haben, weil jeder Genuss in der globalisierten "Netzwerkgesellschaft" teuer bezahlt werden muss (am wenigsten von denjenigen, die am Ende die Kreditkarte zücken). Wie aber kann dafür gesorgt werden, dass immer genauer (und immer wieder) die Kosten, die Opfer, die Nachteile dieses kulturellen Genusses benannt werden, von der Vernichtung von Geschichte bis zur Vernichtung von Lebenszeit? Die AOL-Time-Warner-EMI-Fusion mag als Symbol, als neuer Leviathan, gute Dienste leisten, aber sie sollte von ihren Kritikern nicht als grandioses Naturschauspiel, sondern als eine echte Bedrohung dramatisiert werden - zu überführen in ein, zwei, drei Wissen über die Logik einer radikalen (und vielleicht desaströsen) Beschneidung von sozialen und politischen Chancen. ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org