________________________________________________________________________________ Die freie Wahl zwischen blauen und roten Tütchen Warum wir es lieben, Haider zu hassen / Von Slavoj Zizek Die Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ hat im gesamten Spektrum des "legitimen demokratischen" politischen Blocks Entsetzen ausgelöst: von sozialdemokratischen Linken bis zu christlich Konservativen, von Chirac bis Clinton - von Israel mal ganz zu schweigen - haben alle ihre "Besorgnis ausgedrückt. Und viele haben angekündigt, als zumindest symbolische Maßnahme Österreich unter diplomatische Quarantäne zu stellen, bis diese Seuche verschwunden ist oder sich als einigermaßen ungefährlich herausgestellt hat. Manch ein Kommentator sieht in diesem Entsetzen den Beweis dafür, wie stark der antifaschistisch-demokratische Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa noch ist. Doch ist das wirklich so eindeutig? Zunächst einmal muss man sich in Erinnerung rufen, dass die tonangebende demokratische Politik einen gut versteckten, dabei aber eindeutig erleichterten Seufzer ausstieß, als sich vor einem Jahrzehnt die rechtspopulistischen Parteien in Europa ernsthaft bemerkbar machten. Die Botschaft dieser Erleichterung: Endlich gibt es einen Feind, den wir gemeinsam so richtig hassen können; den wir opfern, ja exkommunizieren können, um unseren demokratischen Konsens zu demonstrieren! Diese Erleichterung muss vor dem Hintergrund dessen interpretiert werden, was gewöhnlich der aufkommende "post-politische Konsens" genannt wird. Das Zweiparteiensystem, die vorherrschende politische Ordnung der post-politischen Ära, täuscht eine Wahlmöglichkeit vor, die es im Grunde gar nicht gibt. Beide Seiten nähern sich in ihrer Wirtschaftspolitik einander an - man denke an Clintons und Blairs Aufwertung "straffer Finanzpolitik zum Leitsatz der modernen Linken: Eine straffe Finanzpolitik fördere das Wirtschaftswachstum, und dieses Wachstum erlaube es, eine aktivere Sozialpolitik zu betreiben im Kampf für eine verbesserte soziale Absicherung, bessere Ausbildung, ein besseres Gesundheitswesen . . . So reduziert sich der Unterschied zwischen beiden Parteien letztlich auf ihre Haltung bei Kulturfragen: multikulturelle, sexuelle und sonstige "Offenheit steht gegen traditionelle "Familienwerte". Bezeichnenderweise ist es die rechte Option, die anspricht und zu mobilisieren versucht, was auch immer übrig geblieben ist vom Mainstream der Arbeiterklasse in den westlichen Gesellschaften - während die multikulturelle Toleranz zum Motto der frisch privilegierten "symbolischen Klassen" wird (Journalisten, Akademiker, Manager . . .). Politische Wahlmöglichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA - müssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir stehen, wenn wir im Café nach Süßstoff fragen: Überall können wir zwischen Natreen und Saccharin wählen, zwischen blauen und roten Tütchen, und fast jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und überall betont dieses lächerliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die völlige Bedeutungslosigkeit der Alternative. Und gilt nicht dasselbe bei Talkshows, in denen die "Freiheit der Wahl" nur eine Wahl bedeutet zwischen Beckmann und Biolek? Oder bei Softdrinks: Coke oder lieber Pepsi? Es ist allgemein bekannt, dass der Knopf "Türe schließen in den meisten Aufzügen ein funktionsloses Placebo ist; dass er uns nur das Gefühl geben soll, wir könnten irgendwie zur "Beschleunigung" der Fahrt beitragen. Doch drücken wir diesen Knopf, schließt sich die Tür ebenso schnell, als wenn wir nur den Etagenknopf drücken würden. Dieser Extremfall einer vorgetäuschten Mitbestimmung ist die passende Metapher für die Mitbestimmung des Einzelnen in unserem "postmodernen" politischen Prozess. Was uns wieder zu Haider bringt: Die einzige politische Kraft von Gewicht, mit welcher "Wir" antagonistisch auf "Die" erwidern, sind die neue populistischen Rechten - Haider in Österreich, Le Pen in Frankreich, die Republikaner in Deutschland, Buchanan in den USA. Doch genau darum spielen diese Figuren eine Schlüsselrolle: Sie sind die Ausgeschlossenen, die gerade durch diesen Ausschluss (nämlich ihre Nichtakzeptierbarkeit als Regierungspartei) die liberale Hegemonie negativ legitimieren, indem sie als Beweis für deren "demokratische" Haltung dienen. Und so verdrängt ihre Existenz den wahren Kern der politischen Auseinandersetzung, der natürlich das Ersticken jeder radikal linken Alternative ist; und ersetzt diesen durch die "Solidarität" des gesamten "demokratischen" Blockes gegen die Gefahr durch rassistische Neonazis und andere. Darin letztlich beweist sich heute die liberaldemokratische Vorherrschaft, welche durch den sozialdemokratischen "Dritten Weg" vollendet wurde. Genau genommen ist der "Dritte Weg" eine Sozialdemokratie unter der Hegemonie des liberaldemokratischen Kapitalismus - ihr fehlt der subversive Stachel und selbst die letzte Referenz auf Antikapitalismus und Klassenkampf. Entscheidend ist: Die neuen Rechtspopulisten stellen heute die einzige "ernste" politische Kraft dar, welche die Menschen mit antikapitalistischer Rhetorik ansprechen, wenn diese auch nationalistisch, rassistisch oder religiös verbrämt wird. Auf einem Kongress des Front National stellte Le Pen vor ein paar Jahren einen Algerier, einen Afrikaner und einen Juden auf das Podium, umarmte sie und sagte zum Publikum: "Sie sind nicht weniger Franzosen als ich - die Repräsentanten des multinationalen Großkapitals sind es, die ihre Pflicht gegenüber Frankreich vergessen, die die wahre Gefahr für unsere Identität sind!" So heuchlerisch solche Erklärungen auch sind, zeigen sie dennoch, wie sich die populistische Rechte auf genau dem Terrain ausbreitet, das von der "Linken" aufgegeben wurde. Hier spielt die liberaldemokratische Neue Mitte ein doppeltes Spiel: Sie setzt uns rechtslastige Populisten als gemeinsamen wahren Feind vor, während sie in Wirklichkeit die Panik gegenüber der Rechten schürt, um das "demokratische" Feld zu beherrschen; um ihr Terrain abzustecken und um ihre radikalen Gegner auf der linken Seite für sich zu gewinnen und zu disziplinieren. Aber durch Ereignisse wie die Regierungsbeteiligung der Haider-Partei (die, das sollten wir nicht vergessen, vor ein paar Jahren einen Vorläufer hatte: in Italien bildete Berlusconi seine Regierung mit Finis neofaschistischer Alleanza Nazionale) - durch solche Ereignisse erhält die neue Mitte ihre eigene Botschaft in umgekehrter - und wahrer - Gestalt zurück. Die Regierungsbeteiligung der extremen Rechten ist der Preis, den die politische Linke zahlt, weil sie ihrem großen politischen Projekt abgeschworen hat - weil sie den entfesselten Kapitalismus des Marktes als "the only game in town" akzeptiert hat. -------------------------------------------------------------------------------- Süßstoff, Zucker, Antwortvielfalt Politik im und nach dem Zeitalter des Postpolitischen Replik auf Slavoj Zizeks nettime-Kurzessay "Politische Wahlmöglichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA - müssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir stehen, wenn wir im Café nach Süßstoff fragen: Überall können wir zwischen Natreen und Saccharin wählen, zwischen blauen und roten Tütchen, und fast jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und überall betont dieses lächerliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die völlige Bedeutungslosigkeit der Alternative." (Slavoj Zizek in: Die freie Wahl zwischen blauen und roten Tütchen. Warum wir es lieben, Haider zu hassen) Hier am phantasierten Zentrum der Kaffeekultur, hier in Wien bedient man sich noch immer des Zuckers. Nicht immer freiwillig, aber nahezu ohne Alternative. Du bestellst eine Melange mit Süßstoff; serviert wird ein Kaffee mit Zucker. Du urgierst, du hättest Süßstoff bestellt; die Antwort ist: "Ja, bitte vielmals um Entschuldigung, bring ich gleich". Nach weiteren fünf Minuten beeilst du dich, den Zucker in deinen Kaffee zu werfen, damit er - diesmal nicht wegen des Zuckerersatzes, sondern wegen der zunehmenden Abnahme der Wärme - nicht ungenießbar wird. Das ist, ich schwör's, kein Einzelfall: In vielfältigen empirischen Versuchen ist es mir und vielen Freunden gelungen nachzuweisen, daß, soviel Süßstoff auch bestellt wird, fast immer nur Zucker serviert wird. Es gibt Menschen, die die Grundlage dieses Phänomens in der Struktur der Denkschemata von professionellen KellnerInnen suchen, welche angeblich das Wort "Süßstoff", oder das hier gebräuchliche Synonym "Kandisin" nicht in ihrem "Programm" haben, wie z.B. "Melange", "kleiner Brauner","Sachertorte oder ähnliches. Das sei in der jahrhundertelangen Tradition der Kaffeehäuser einfach ein bißchen zu progressiv. Andere meinen wiederum, daß es eine gefinkelte kleinkapitalistische und suchtmittelverbreitende Taktik sei, bei der Bestellung von "Verlängerten" automatisch - und auch gegen die Regeln der Zubereitung der Wiener Melange - Schlagobers beifügen zu müssen, bei der Bestellung von Kandisin automatisch Zucker. Das wolle der Kunde so, weil er seine Erfüllung jenseits der vorgeschriebenen Moden der spartanischen Zurückhaltung doch im süßen Glück suche. So sicher wie die KellnerInnen in Österreich mir den Kaffee als Zwangsmaßnahme nur mit Zucker servieren, und auch davon ausgehen, daß das dem unbewußten Subcode der Bestellung des Kunden entspricht, so führt die intellektuelle Herbeiwünscherei der "Wende" zwangsläufig zu einem conservative turn, zur Machtübernahme der Rechtsextremen unter der beschwichtigenden Decke mit den Christlich-Sozialen und damit erst zur wahren Wahllosigkeit. In Österreich haben über Monate vor und nach den Nationalratswahlen Medien und führende Intellektuelle die Wende getrommelt. Schnell verschwamm die Kritik an den unglaublichen, aber realen Ausformungen der sozialpartnerschaftlich dominierten Koalition der Mitte mit dem Herbeireden einer "Erneuerung", die aufgrund der Kräfteverhältnisse des österreichischen Parteiensystems groteskerweise nur eine konservative Restauration sein konnte. Denn schon vor den Wahlen war klar: Da es kaum Chancen für eine Mehrheit links der Mitte gibt, war die Alternative zur alten SPÖ/ÖVP-Koalition schlicht und einfach eine Regierungsbeteiligung der rechtsextremen FPÖ. Prompt werden die für sich schon ohnehin fragwürdigen Aussagen der Philosophen-Dandies Rudolf Burger und Konrad Paul Liessmann (s.u.a. die Kontroverse in der Tageszeitung "Der Standard" nach den Nationalratswahlen, z.B. Liessmann, "Die Intellektuellen und ihr Volk", 30. 10.und gettoattack: "Prinzip der Schuldumkehr, 4.11., http://www.derstandard.at/) nun vom neuen Kunststaatssekretär Morak (ÖVP) aufgegriffen und massiv zu einer Apologie für sein Zusammengehen mit einer Partei verwendet, deren Chef er noch fünf Jahre zuvor mit einem deftigen "Raus mit Haider aus Österreich!" bedacht hatte. Die Pointe Zizeks trifft für Österreich also erstens überhaupt nicht mehr zu. Es gibt keinen Pluralismus von einander sehr ähnlichen Möglichkeiten mehr, eine angeblich bedeutungslose Alternative zwischen blauen und roten Sackerln, sondern - spätestens aufgrund der Festlegung eines christlich-sozialen Parteichefs - nur eine einzige Variante: die taktisch motivierte "Normalisierung" der rechtsextremen FPÖ durch die christlich-soziale ÖVP. Was soviel heißt wie: Selbst und gerade wenn ich noch so stark gegen Natreen, Saccharin und deren annähernde Ununterscheidbarkeit auftrete, ich entkomme dem Zucker nicht: die FPÖ ist an der Regierung, Österreich die Avantgarde Europas, die die Exklusion der extremen Rechten aus den Regierungen aufhebt und damit den Dammbruch zu ungekannten Formen politischen Extremismus in Europa verursacht. Zweitens ist auch aus der Erfahrung in Österreich wieder einmal zu lernen, daß das kulturelle Feld als die gesellschaftliche Entwicklung begleitender kritischer Diskurs äußerst leicht Gefahr läuft, in eine affirmative Rolle innerhalb von Schüben der politischen Restauration zu schlüpfen, auch und wohl hauptsächlich wegen der zunehmenden Homogenisierung der Medienlandschaften und einer steigenden Skandalisierungstendenz im integrierten Spektakel, das die Funktion der Intellektuellen auf die von plakativen StichwortgeberInnen zu dezimieren tendiert. Und dennoch und da es nun mal so ist: wie jeder mißlichen Lage sind auch dieser Situation als Krise die Möglichkeitsbedingungen für etwas Besseres immanent. Im Gegensatz der von Zizek zu Recht kritisierten und beschworenen klebrigen Mitte eines Zweiparteiensystems (mit Auswirkungen bis in zivilgesellschaftliche Bereiche) kann sich aus der Polarisierung nicht nur eine neue Position der Sozialdemokratie jenseits der neoliberalen Konzepte des "Dritten Wegs" entwickeln: Noch viel wichtiger wird sein, daß sich ein neues - post-postpolitisches - System von vielfältigen Antagonismen ausbildet, deren Verhandlung umso möglicher wird, soweit die Restbestände zivilgesellschaftlicher Organisation nicht durch kontrollgesellschaftliche Mechanismen zerrieben werden. Und das ist auch hier in Österreich noch längst nicht soweit. Wir sind nicht zuckersüchtig, höchstens 27 Prozent! antagonism versus populism! support the austrian resistance actions http://www.t0.or.at/gettoattack http://www.servus.at/kanal/gegenschwarzblau Gerald Raunig PS. Ich entschuldige mich bei allen KellnerInnen Österreichs für die literarisch zugespitzten Pauschalverurteilungen. # distributed via : no commercial use without permission # is a moderated mailing list for net criticism, # collaborative text filtering and cultural politics of the nets # more info: majordomo@bbs.thing.net and "info nettime-l" in the msg body # archive: http://www.nettime.org contact: nettime@bbs.thing.net ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org