________________________________________________________________________________ Magischer Urbanismus Die "Lateinamerikanisierung" der US-Metropolen. Von Mike Davis Als sich Latinos im Laufe des Jahres 1996 noch vor den Afroamerikanern zur zweitgrößten ethnischen Bevölkerungsgruppe in New York City entwickelten, gab es zur Feier dieses Anlasses weder Straßenfeste in El Barrio oder Washington Heights, noch hielt der Bürgermeister auf den Stufen von Gracy Mansion eine Pressekonferenz ab. Trotzdem war dieser demographische Durchbruch ein historisches Ereignis ganz besonderer Art, nur noch vergleichbar mit der irischen Einwanderungswelle Mitte des 19. Jahrhunderts oder dem massenhaften Zuzug von schwarzen Bewohnern in den frühen sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. In sechs der zehn größten Städte der USA (New York, Los Angeles, Houston, San Diego, Phoenix und San Antonio) leben inzwischen mehr Latinos als Afroamerikaner. In Los Angeles, Houston und San Antonio sind sie sogar noch vor der nicht-hispanischen weißen Bevölkerung die größte ethnische Community. Obwohl die Städte mit der stärksten Zuwanderung von Latinos weiterhin alle im Südwesten liegen, ist auch in den städtischen Siedlungsräumen ohne eine direkte historische oder geographische Verbindung zu Mexiko oder Spanien, wie z.B. Atlanta, Milwaukee und Washington D. C., die Anzahl der hispanischen Bewohner gewaltig angestiegen. Ein besonders spektakuläres Beispiel stellt Las Vegas dar, das am schnellsten wachsende städtische Ballungszentrum der USA in den neunziger Jahren. Vor dreißig Jahren gab es im Glitterdome mitten in der Wüste nur eine winzige Latino-Community, während eine weitgehend segregierte schwarze Arbeiterschaft in den Niedriglohnjobs als Zimmermädchen, Putzpersonal und Hausmeister das Rückgrat der Casino-Ökonomie bildete. Heute ist der Anteil von Latinos an den Dienstleistungs-Beschäftigten und an der Gesamtbevölkerung höher als der der afroamerikanischen Einwohner. Diese folgenreiche "Lateinamerikanisierung" der mittleren und größeren Städte der USA stützt sich auf eine Bevölkerung mit spanischen Nachnamen, die jährlich um eine Million Menschen anwächst, und somit das Fünffache des allgemeinen Bevölkerungswachstums erreicht. Spätestens im Jahre 2005 würden Schwarze zum ersten Mal in der Geschichte des Landes nur die drittgrößte ethnische Gruppe bilden. Ähnlich wie die asiatischen Einwanderer favorisieren Latinos ganz eindeutig die großstädtischen Zentren als Wohnorte, wodurch die Vorurteile über das Chaos der Metropolen von einer mehrheitlich suburbanen weißen Bevölkerung noch verstärkt werden. Mit Ausnahme der mexikanischen Migranten, die vielerorts von Kalifornien bis Michigan auch das kleinstädtische Leben bestimmen, finden wir die wichtigsten Latino-Gruppen konzentriert in den zwanzig größten Städten der USA. Alleine in Los Angeles und New York lebt etwa ein Drittel aller spanisch-sprechenden Bewohner. Danach kann sich Los Angeles auf die Fahnen schreiben, die weltweit zweitgrößte mexikanische, guatemaltekische und salvadorianische Community zu beherbergen, während New York City damit angibt, die "wahre" Hauptstadt von Puerto Rico und die zweitgrößte Stadt der Dominikanischen Republik zu sein. Ohne das enorme Wachstum der Latino-Communities wären die meisten US-amerikanischen Städte in den letzten Jahren mit einem dramatischen Bevölkerungsrückgang konfrontiert worden, vor allem angesichts der massiven Abwanderung der weißen und seit 1990 auch verstärkt der schwarzen Mittelschicht. Im vorherrschenden binären Diskurs innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit ist die historische Bedeutung dieser ethnischen Transformation der städtischen Landschaft bisher jedoch noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Die zunehmend von Asiaten wie auch Latinos bestimmte Dynamik der gegenwärtigen Großstadt wird weiterhin in einer anachronistischen Schwarz-Weiß-Optik wahrgenommen. So wurden z. B. die Rodney-King-Riots in Los Angeles County 1992 fast überall als Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen oder zwischen Schwarzen und Koreanern interpretiert, obwohl die Mehrheit der Verhafteten spanische Nachnamen hatte und in den Migrantenvierteln wohnte, die besonders stark von der wirtschaftlichen Rezession betroffen sind. Ähnlich verhält es sich mit den Protesten hispanischer Jugendlicher. Als 1994 75 000 junge Latinos überall in Kalifornien auf die Straße gingen, um gegen die rassistische Proposition 187 zu demonstrieren, wurde der größte Schülerprotest in der Geschichte des Bundesstaates von den nationalen Medien praktisch totgeschwiegen. Ein vergleichbarer politischer Protest von schwarzen oder weißen Jugendlichen dagegen wäre mit mehr Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen worden. Kulturelle Transformatoren Die Latino-Metropolis in den USA gibt den Schmelztiegel ab für weitreichende Transformationen der städtischen Kultur und der ethnischen Identitäten insgesamt. Mehr als ein halbes Jahrhundert haben die für die US-amerikanische Volkszählung zuständigen Behörden nach einer passenden Kategorie gesucht, die alle Individuen berücksichtigt, die unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrer Muttersprache mit lateinamerikanischen kulturellen Wurzeln aufgewachsen sind. Schließlich wurde ein Teil der Befragten bei der Volkszählung 1990 ganz einfach gebeten, sich einer der folgenden nationalen Identitäten zuzuordnen: mexikanisch, kubanisch, puertoricanisch usw. Positive Zuordnungen - unabhängig von der Beantwortung anderer Fragen zur persönlichen Identität - wurden am Ende der Erhebung als "hispanisch" zusammengefaßt. Dabei handelt es sich im besten Fall um eine bürokratische Zweckmäßigkeit. In Kalifornien z. B. wird die Be-zeichnung Latino dem Begriff Hispanic vorgezogen. Und was wesentlich wichtiger ist: Es gibt ein weitverbreitetes kritisches Bewußtsein darüber, daß beide Labels die entscheidenden Quotienten der indigenen genetischen und kulturellen Vielfalt in den Bevölkerungsteilen, die sie zu umschreiben versuchen, verkennen. (Tatsächlich handelt es sich bei diesen beiden Meta-Kategorien ursprünglich um ideologische Durchsetzungen der Kolonialherren aus dem Europa des 19. Jahrhunderts: Hispanic kommt aus Spanien und Latinity aus dem Frankreich Napoleons III. Bol'vars wesentlich weiter reichender Begriff Americanismo wurde inzwischen von den Gringos gestohlen und in Beschlag genommen.) Es berührt direkt das Zentrum der Geschichte der sogenannten Neuen Welt, daß es gegenwärtig keine allgemein anerkannte Bezeichnung gibt, die die millionenfach vollzogene Verschmelzung des iberischen, afrikanischen und indianischen Erbes angemessen reflektieren könnte. Und doch ist die Kategorie Latino / Hispanic mehr als eine rein artifizielle und rassifizierte Etikettierung, wie z. B. die von der Mehrheitsgesellschaft gewählte Bezeichnung Asian-American. Mit Asian-American sollten schwer zu klassifizierende Individuen mit höchst unterschiedlicher nationaler und kultureller Herkunft zusammengefaßt werden, mit der Hoffnung, diese könnten als Reaktion nachträglich so etwas wie eine vage gemeinsame Identität entwickeln. Bei der Kategorie Latino / Hispanic handelt sich auch nicht um eine reine Marketingstrategie, mit der versucht werden soll, oberflächliche Gemeinsamkeiten in Sprache, Kleidung und Eßgewohnheiten für kommerzielle Zwecke auszubeuten. Latino in den USA zu sein, bedeutet jedoch vielmehr, an einem realen und eigenständigen historischen "Werdeprozeß" im hegelianischen Sinne teilzunehmen. Da die US-amerikanischen Großstädte mit der größten Vielfalt lateinamerikanischer Menschen und Communities der ganzen Hemisphäre gesegnet sind, bietet sich ihnen die Chance, zu machtvollen kulturellen Transformatoren für die Produktion und den Re-Export kosmopolitaner Latinidades (Hispanicities) im 21. Jahrhundert zu werden. Ich benutze bewußt den Plural Latinidades, da in jeder der drei US-amerikanischen Metropolen, die von sich behaupten können, die "heimliche Hauptstadt Lateinamerikas" zu sein - Los Angeles, New York und Miami - jeweils bestimmte Identitätspolitiken am Werke sind, die die Fusionen nationaler und regionaler Traditionen reflektieren. Aber diese nationalen Gruppen sind keine Größen im essentiellen Sinne. Seit der Veröffentlichung "The Polish Peasant in Europe and America" (1919) von Thomas und Znaniecki haben Migrationsforscher wiederholt daran erinnert, daß die mitgeführten "nationalen Identitäten" im Einwanderungsland einem Wandlungsprozeß unterworfen werden und sich im vorherrschenden Kräfteverhältnis der Mehrheitskultur und den ihr entgegengesetzten "Fremden" zu spezifischen "Ethnizitäten" formen. In Los Angeles z.B. hat zudem jede neue Generation von in den USA aufgewachsenen Jugendlichen mexikanischer Herkunft ein Selbstbewußtsein gegenüber der dominanten Anglo-Gesellschaft entwickelt. So haben - gefangen in einem quälenden Niemandsland zwischen einem System der Zuschreibungen von Rasse und Ethnizität - Mexican-Americans zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts den Wunsch zum Ausdruck gebracht, ähnlich wie die Polish-Americans oder Italian-Americans als eine eigenständige Minderheitengruppe öffentlich anerkannt zu werden. Fehlende gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten sowie die zunehmende Abschottung in den eigenen Communities haben zusammen mit dem Einfluß des militanten schwarzen Nationalismus zwischen den sechziger und achtziger Jahren die separatistische Bewegung der Chicanos hervorgebracht, die exklusive Ansprüche auf ihren Ursprung im südwestlichen Aztlan erhebt. Die beeindruckende Wiederentdeckung von Mexicanidad während der achtziger und neunziger Jahre hat auf der anderen Seite ihre Wurzeln in der massiven Migration und der Ausweitung der spanisch-sprechenden Öffentlichkeit innerhalb der USA. (Es handelt sich - worauf ich später noch näher eingehen werde - um einen Ausdruck der neuen strukturellen Synchronität und Intensivierung der Verbindungen zwischen den alten und neuen Heimatorten der Migranten.) Transnationale Vorstädte 1982 zerstörte ein Brand einen ganzen Wohnblock in der Nähe von Downtown Los Angeles und hinterließ 24 tote Frauen und Kinder. Es herrschte allgemeine Verwunderung, als die ermittelnde Feuerwehr später herausfand, daß die mehreren Hundert Bewohner des Blocks alle ehemalige Nachbarn aus einem einzigen Dorf, El Salitre in Mexiko, waren. Um einen Ausweg aus der Überschuldungskrise, aus Inflation und ständigen Dürrekatastropen zu finden, war die Hälfte der Bewohner von El Salitre einfach al norte geschickt worden, um dort das kommunale Vermögen aufzubessern. Die Tragödie hatte daher ein zentrales Strukturmerkmal der neu entstehenden Latino-Metropole enthüllt: Die Substanz der neuen spanisch-sprechenden städtischen Nachbarschaften bilden nicht nur Individuen oder Familienhaushalte, sondern immer stärker ganze transnationalisierte Communities. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern und ihre traditionellen Solidaritäten und Beziehungen zu reproduzieren, mußten Hunderte Ejidos, Rancherias, Dörfer und Kleinstädte überall in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik lernen, wie man in zwei Orten gleichzeitig lebt. Wichtig ist, zwischen alten und neuen Mustern der Kettenmigration zu unterscheiden. Seit den Tagen von Ellis Island galt für die Vorhut der männlichen Migranten, daß sie in ihren Stadtteilen oder auf dem Arbeitsmarkt Nischen schaffen oder finden mußten, um später ihre Paisanos aus ihrem Familienclan, ihrem Heimatdorf oder ihrer Region nachzuholen und unterzubringen. Diese Nischen und Netzwerke wurden über die Jahre und Jahrzehnte zu einem unschätzbaren "sozialen Kapital" für die zurückgebliebenen Communities, da sie ihnen erlaubten, Arbeitslosigkeit zu exportieren, neue Qualifikationen zu erwerben, ihre finanziellen Ressourcen aufzubessern und sich in gewisser Weise gegen die Brutalität und Unberechenbarkeit der Natur und des Weltmarktes abzusichern. In der Vergangenheit wurden sie meist von jungen Männern (in weit geringerem Ausmaß von jungen Frauen) am Leben erhalten. Die Jungen gingen für begrenzte Zeiträume, die von einigen Monaten bis zu ganzen Jahrzehnten reichten, in die USA, arbeiteten hart, und kehrten dann oftmals mit einem kleinen Vermögen und als lokale Helden in ihre Heimat zurück. Eine beträchtliche Minderheit blieb natürlich auch schon damals für immer auf der anderen Seite der Grenze oder des Ozeans und hat im Laufe der Zeit ihre Familienangehörigen in die Staaten nachgeholt. Aber das vorherrschende Migrationsmuster von Mexikanern in den siebziger Jahren, das dem der Italiener im 19. Jahrhundert ähnelte, bestand aus der temporären oder saisonbedingten Auswanderung von Arbeitskräften, die sich der Nachfrage der Arbeitsmärkte in den US-Metropolen anzupassen versuchten. Schließlich führten die Schuldenkrise in Mexiko, aus der für Millionen mittelloser Arbeiterfamilien eine tiefe Depression erwuchs, und die grausamen Bürgerkriege in El Salvador und Guatemala zu einem gewaltigen Bedeutungszuwachs der sogenannten Push-Faktoren im Migrationsprozeß. Unabhängig von den ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland USA (einer der zentralen sogenannten Pull-Faktoren) zwang die schiere Notwendigkeit des Überlebens immer mehr Menschen auf den zunehmend schwierigen und gefährlichen Weg Richtung Norden. Immer mehr junge Frauen schlossen sich der Wanderungsbewegung an, genauso wie arbeitslos gewordene Facharbeiter, Akademiker und deklassierte Selbständige. Zur gleichen Zeit brachte die Reform des Einwanderungsgesetzes 1986 so-wohl erhebliche Vorteile (eine Amnestie für mehr als 2,5 Millionen vormals illegale Einwanderer) wie auch wesentliche Nachteile (Sanktionen für Arbeitgeber und eine Militarisierung der Grenze) mit sich, so daß sich immer mehr Wanderarbeiter dauerhaft in den USA niederließen. Die etablierten Teile der Latino-Communities begannen, in ihre Wohnungen und Häuser, in die College-Ausbildung ihrer Kinder und in kleine und mittlere Unternehmen zu investieren. Einige Beobachter haben diese Entwicklung fälschlicherweise als Zeichen für eine abnehmende Identifikation mit ihren traditionellen Kulturen und Heimatländern interpretiert. Vielmehr sah sich ein Großteil der Migranten gezwungen, sich immer mehr auf der nördlichen Seite der Grenze zu verschanzen, nur um ihre umkämpften sozialen Identitäten auf der südlichen Seite der Grenze verteidigen zu können. Mehr als jemals zuvor bilden die in die Heimat überwiesenen Migradollars (nach Schätzungen zwischen acht und neun Milliarden jährlich in den neunziger Jahren) die zentrale Lebensgrundlage für eine wachsende Anzahl von ländlichen Communities in Mexiko und Zentralamerika. Diese neue Logik der sozialen Reproduktion - unter den Bedingungen einer rapiden und manchmal auch katastrophalen globalen Restrukturierung - zwingt die traditionellen Communities dazu, Besitz und Bevölkerungen zwischen zwei unterschiedlichen ortsverbundenen Existenzen auszubalancieren. Ökonomische und kulturelle Nabelschnüre verbinden heute Hunderte lateinamerikanischer und karibischer Lokalitäten dauerhaft mit ihren Gegenstücken, den städtischen Nachbarschaften in den Vereinigten Staaten. In dem Maße, wie die Communities im Auswanderungsland zum integrierten Bestandteil der Ökonomie der Einwanderermetropolen wie auch der ihres eigenen Nationalstaates werden (ein Prozeß, den einige Forscher inzwischen Nortenizacion nennen), werden sie de facto zu "transnationalen Vorstädten und Stadtteilen" von New York, Los Angeles, Chicago und Miami. Es ist wichtig anzuerkennen, daß es sich hierbei nicht nur um eine Metapher handelt. Dieser Vorgang, der vielmehr reale und radikal neue soziale und geographische Verbindungen verlangt, muß gerade von den Communities und Haushalten, die von den globalen Marktgesetzen zuallererst als überflüssig erklärt worden sind, Tag für Tag neu geschaffen und aufrechterhalten werden. Ironischerweise werden diese kommunalen Überlebensstrategien am wirkungsvollsten von all jenen Technologien unterstützt, die man in der Regel mit Prozessen der Globalisierung und der Ent-Lokalisierung identifiziert. In seiner detaillierten Studie über die Transplantation der Hälfte der Bevölkerung des Dorfes Ticuani im mexikanischen Bundesstaat Puebla nach Brooklyn in New York City hat Robert Smith die entscheidende Rolle der Telekommunikation und der gesunkenen Flugpreise für die Aufrechterhaltung der kollektiven Identitäten betont: "Der Punkt ist, daß die Möglichkeit der unmittelbaren Kommunikation und des schnellen Reisens es den meisten Migranten der ersten und zweiten Generation heute anders als früher erlaubt, ihr Leben gleichzeitig in der Community ihres Herkunfts- und in der ihres Aufnahmelandes führen zu können, bzw. zumindest bestimmte Lebenserfahrungen teilen zu können. Das wiederum hat zur Folge, daß einige aus dem Heimatland 'importierte' soziale Formen und Beziehungen in dem neuen Land erhalten bleiben und an die Lebensformen dort angepaßt werden können." Tatsächlich haben sich die (ehemaligen) Bewohner von Ticuani in einer Art virtuellem Dorf neu eingerichtet, wo alle wesentlichen kommunalen Angelegenheiten in wöchentlichen Konferenzschaltungen zwischen den Dorfältesten in Brooklyn und Mexiko diskutiert und entschieden werden. Verbindungen zur alten Heimat werden durch Familienausflüge und Teilnahme an Dorffesten regelmäßig erneuert, während leidenschaftlich ausgetragene Rivalitäten zwischen den Volleyballteams der Migranten in Brooklyn einen Beitrag zur kollektiven ticuanesischen Identitätsbildung in New York leisten. Gleichzeitig erhalten die loyalen Dorfmitglieder in der Diaspora ihre lebenswichtigen Transfers von Migradollars nach Hause aufrecht. Auf der Makroebene stellen Hunderte, vielleicht auch Tausende von durchorganisierten und mit der Ticuani-Gemeinschaft vergleichbaren Assoziationen und Fraternidades eine anpassungsfähige Infrastruktur für das Migrantenleben in den heutigen US-amerikanischen Metropolen dar. Sie unterscheiden sich natürlich durch die proportionale Verteilung der Bevölkerungen und des Sozialkapitals auf die alten und neuen Heimatstädte und -dörfer. Innerhalb dieser transnationalen Netzwerke kommt es recht häufig vor, daß die einzelnen Individuen in den von ihnen bevölkerten Parallelwelten einen vollkommen unterschiedlichen sozialen Status besitzen. Die Stadt San Miguel el Alto in Jalisco z.B. hat über Jahre flexible Arbeitskräfte für Palm Springs in Kalifornien bereitgestellt. Während der Hochsaison im Winter und Frühling ist praktisch die ganze männliche Bevölkerung nach Norden gezogen, um in dem berühmten Urlaubsort mitten in der Wüste in den zahlreichen Steakhäusern, Restaurants, Hotels und Country Clubs zu arbeiten. Für die meisten Touristen und Bewohner von Palm Springs sind diese Menschen aus San Miguel - die oftmals gleichzeitig zwei oder drei Jobs nachgehen - nichts weiter als eine effiziente und zum großen Teil unsichtbare braunhäutige Arbeitsarmee. Aber wenn sie nach Jalisco zurückkehren, wandelt sich ihre soziale Stellung erheblich. Ein inhärentes Problem der Kettenmigration jedoch sind eine Reihe unbeabsichtigter Folgen des Exports von Migradollars und sozialer Probleme aus den USA in die Herkunftsgemeinden der Migranten. Angesichts der extremen Unterschiede zwischen den gewalttätigen Straßen der US-amerikanischen Innenstädte und den gewöhnlich friedlichen Dorfwelten im ländlichen Mexiko oder in Zentralamerika liegt hier eine virulente Gefahr. (Selbst in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana, die in den USA oftmals als Hölle des Verbrechens und des Verderbens wahrgenommen wird, beträgt die aktuelle Mordrate nur ein Zehntel der ihrer wesentlich wohlhabenderen kalifornischen Nachbarstadt San Diego.) Insbesondere Los Angeles ist berühmt und berüchtigt dafür, daß die Gewalt-Metropole ihre tödlichen Straßenkriege gerne in ihre transnationalen Vorstädte exportiert. Gemäß einer lokalen Strafverfolgungsstrategie, die immer stärker auf Massendeportationen (gewöhnlich ohne ein Gerichtsverfahren) von Gangmitgliedern ohne US-amerikanische Staatsbürgerschaft setzt, wurden in den letzten Jahren Tausende enttäuschter und mittelloser Jugendlicher aus Los Angeles nach Mexiko, Belize, El Salvador und Guatemala abgeschoben. Das durchaus vorhersehbare Ergebnis besteht aus einer sich epidemisch ausbreitenden und ursprünglich im städtischen Kontext entstandenen Gewalt in vormals ländlichen Gebieten. In der Kleinstadt Quezaltepeque in El Salvador (13 000 Einwohner) gab es im Jahr 1997 z.B. Dutzende Morde infolge eines exportierten Gangkrieges zwischen Repatriados aus Los Angeles' 18th Street und den Mara Salvatrucha Sets. Staubige und verschlafene Städtchen in Belize, die früher lediglich Fußballkämpfe kannten, werden heute von mehr als einem Dutzend sich bekriegender Straßengangs aus L. A. terrorisiert. In anderen Fällen sind abgeschobene Jugendliche - teilweise mit Automatikwaffen, Handgranaten und Feuerwerfern vom Schwarzmarkt ausgerüstet - als die Söldner von einflußreichen mexikanischen und kolumbianischen Narcotraficantes (Drogenhändlern) in Erscheinung getreten. Die Armutsfalle Wie war es möglich, daß das rapide Wachstum der städtischen Latino-Bevölkerung gerade in einem Zeitraum stattfinden konnte, in dem die meisten US-amerikanischen Großstädte eine Phase der massiven Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit durchliefen? Die simple und beliebte Antwort vieler konservativer Politiker und Einwanderungsgegner lautet: Die neuen Migranten haben den einheimischen Arbeitern eine ganze Reihe von Jobs einfach weggenommen. So hat ein ehemaliger Chefredakteur der Los Angeles Times in der Zeitschrift Atlantic Monthly den Ausbruch der Rodney-King-Riots mit der Verdrängung der schwarzen Arbeiter durch mexikanische Migranten zu erklären versucht. Andere haben sogar Kaliforniens massive Umweltprobleme, u.a. die ständig verstopften Autobahnen, mit dem angeblichen Versäumnis der Regierung, "die Grenzen vernünftig zu kontrollieren", begründet. Innerhalb der wissenschaftlichen Forschung gibt es jedoch so gut wie keine empirisch gesicherten Hinweise auf den negativen Einfluß von Migranten auf die einheimische Arbeiterschaft. Vielmehr ist eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung der fünf wichtigsten Einwanderer-Metropolen - Los Angeles, San Francisco, Chicago, Miami und New York - zu dem Ergebnis gekommen, daß Migranten in der Regel entweder in den Beschäftigungsnischen, die erst durch die Einwanderung geschaffen worden sind (wie ethnische Restaurants oder kleinere Textilfabriken) unterkommen, oder in den Bereichen eingestellt werden, die von den einheimischen Arbeitern auf dem Weg zu besser bezahlten Jobs in den Vorstädten aufgegeben worden sind. Das heißt, Migranten ersetzen die Einheimischen zwar in bestimmten Beschäftigungszweigen, sie verdrängen sie jedoch nicht. So kann auch die hohe Arbeitslosigkeit unter der schwarzen Bevölkerung in den Großstädten nicht zuerst mit der Konkurrenz durch Latinos erklärt werden. Es sind vor allem die institutionellen Barrieren - darunter die räumliche Segregation in den Wohnbezirken, die anhaltende Diskriminierung am Arbeitsplatz, die hoffnungslos überfüllten Schulen in den innerstädtischen Vierteln und eine zunehmende Kriminalisierung von schwarzen Jugendlichen - die so viele der armen afroamerikanischen Familien daran hindern, von den neu geschaffenen Arbeitsplätzen innerhalb des Hightech- und Informationssektors zu profitieren, oder der weißen Arbeiterklasse in die Randstädte mit besseren Stellenangeboten zu folgen. Es soll an dieser Stelle jedoch auch nicht verschwiegen werden, daß in den meisten Städten der Niedriglohnsektor in der Regel durchaus ethnisch segmentiert ist, und daß die Beschäftigten bevorzugt über ethnische Netzwerke rekrutiert werden. Aber es gibt auch ausreichende Belege dafür, daß Latinos in den USA hauptsächlich entweder miteinander oder mit den Maquila-Arbeitern auf der anderen Seite der Grenze konkurrieren. In einer neueren von der Russel Sage Foundation in Auftrag gegebenen Studie über ethnische Bevölkerungsgruppen in Los Angeles County wundert sich einer der Autoren über "die massiv wachsende Anzahl von mexikanischen Migranten, die in einer relativ beschränkten Anzahl von Beschäftigungszweigen unterkommen müssen". Diese ethnischen Beschäftigungsnischen - u.a. Garten- und Reinigungsarbeiten, Zubereitung von Speisen, Textilverarbeitung - erweisen sich zunehmend als "Mobilitätsfallen" mit geringen Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Sowohl in Los Angeles wie auch in New York findet man kaum Angestellte mit spanischen Nachnamen in den Führungspositionen der Industrien, die die Regionalökonomien in der Post-Cold-War-Ära bestimmen: der Finanzsektor, bzw. die Unterhaltungsindustrie. "Die ökonomischen Rahmenbedingungen in Los Angeles haben sich für mexikanische Migranten insgesamt verschlechtert", lautet ein Fazit des Russel-Sage-Berichts. "Ökonomische Restrukturierungen haben die Migranten in die schlecht bezahltesten Jobs mit der größten Ausbeutung abgedrängt, und die Strukturen zerstört, die es auch unqualifizierten Neuankömmlingen vor kurzem noch erlaubten, einen gewissen sozialen Aufstieg zu erreichen." Die wachsende Misere der Einwanderer in einem hart umkämpften Arbeitsmarkt wurde auch von einer anderen aktuellen Studie über Migrationsbewegungen - ein von den Präsidenten Zedillo und Clinton in Auftrag gegebenes Joint Venture von Forschungsgruppen aus den USA und aus Mexiko - bestätigt. Sie fand heraus, daß "1996 elf Prozent der neu eingewanderten Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 5 000 Dollar eindeutig unter die Armutsgrenze fielen, während ihr Anteil an den Ärmsten der Armen 1990 noch 5,5 Prozent betrug". Die Reform des Einwanderungsgesetzes aus dem Jahre 1986 (IRCA) institutionalisierte zudem neue extreme Formen der ökonomischen und sozialen Ausgrenzung und Abhängigkeit. Während 2,5 Millionen einstmals illegale Einwanderer eine Arbeitserlaubnis und das Anrecht auf Staatsbürgerschaft erwerben konnten, wurden Millionen andere, die nicht die Bedingungen für die Amnestie erfüllten und nach dem festgesetzten Datum ins Land gekommen waren, zu rechtlosen Parias. Die Einführung von Sanktionen gegenüber den Arbeitgebern hat die Beschäftigungsmöglichkeiten der Migranten auf die miesesten Jobs innerhalb der städtischen Schattenökonomie beschränkt und gleichzeitig die Dog-Eat-Dog-Konkurrenz untereinander vorangetrieben. "Für viele Migranten", hat die Sozialforscherin Sarah Mahler festgestellt, "bedeutete der IRCA sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse und die ständige Angst vor Entdeckung und Abschiebung." Hinzu kommt, daß Latinos und Asiaten die US-amerikanischen Großstädte just zu einem Zeitpunkt neu bevölkern, in denen sich die Zentralregierung von der Verantwortung gegenüber den besonders stark von Armut betroffenen Großstädten verabschiedet hat. Zwischen 1977 und 1985 z.B. fiel der bundesstaatliche Anteil an der Finanzierung der kommunalen Haushalte in New York City von 19 auf neun Prozent, in Los Angeles von 18 auf zwei Prozent und in Chicago von 27 auf 15 Prozent. Von den Interessen der weißen Mittelschicht dominierte Lokal- und Landesregierungen weigern sich inzwischen hartnäckig, diese Ausfälle auszugleichen. Sie ziehen es dagegen vor, ihre sozialen Aufgaben über Bord zu werfen, Sozialhilfe zu streichen, Krankenhäuser zu schließen, öffentliche Beschäftigung zu reduzieren, und die Staatseinnahmen in die wachsenden Vorstädte zu investieren. Im Fall des Bundesstaats Kalifornien zumindest hat der Backlash gegen die von Schwarzen und ethnischen Minderheiten bewohnten Innenstädte eine Reihe von reaktionären Volksabstimmungen hervorgebracht, darunter die berühmte Jarvis-Steuerrevolte 1978 (Proposition 13), die Beschneidung der Bürgerrechte (Ansprüche auf Schul- und Gesundheitsversorgung) von Migranten ohne feste Aufenthaltserlaubnis (Proposition 187), die Aufhebung von Affirmative-Action-Programmen (Proposition 209) und des zweisprachigen Schulunterrichts (Proposition 226). Die sozialen Verwüstungen, ausgelöst durch die finanziellen Kürzungen im Bildungs- und sozialen Sicherungssystem, die der Deindustrialisierung auf den Fersen folgten, haben sich als vernichtend erwiesen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von mehr als 30 Millionen Latinos in den USA ist zwischen 1989 und 1996 um 3000 Dollar gesunken, was dem größten Einkommensverlust, der je für eine ethnische Gruppe seit der Zeit der Großen Depression registriert worden ist, entspricht. Obwohl vor allem die ökonomische Ausgrenzung und die Armut der neu eingewanderten Migranten in dieser Statistik erfaßt sind, haben auch die in den USA geborenen Latinos erheblich an Einkommen eingebüßt. Einer kürzlich veröffentlichen Studie über 34 ethnische Gruppen in der Greater Los Angeles Area (14,5 Millionen Einwohner) zufolge betrug das Durchschnittseinkommen von in den USA geborenen mexikanischen Männern (Chicanos) 1959 noch 81 Prozent des Einkommens von nicht-hispanischen weißen Männern, 1990 dagegen nur noch 61 Prozent. (Bei männlichen mexikanischen Migranten fiel der Anteil im selben Zeitraum von 66 auf 39 Prozent, bei Migrantinnen im Vergleich zu weißen Frauen von 81 auf 51 Prozent.) Angesichts solch krasser und zunehmender Ungleichheiten ist die Suche nach größerer wirtschaftlicher und politischer Macht zu einem kategorischen Imperativ für die städtische Latino-Bevölkerung geworden. Auf der Suche nach politischem Einfluß Latinos gelten nach Meinung fast aller politischer Beobachter als der "schlafende Drache" im politischen System der USA. Mit Ausnahme der Exil-Kubaner in Miami sind Latinos vom politischen und öffentlichen Leben in den meisten städtischen Ballungszentren mehr oder minder ausgeschlossen. Mehr als acht Millionen Erwachsene (von insgesamt 18,4 Millionen Latinos im wahlfähigen Alter) besaßen 1996 noch nicht einmal die grundlegenden Bürgerrechte. In einem der Wahlkreise in Los Angeles z.B. waren mehr als zwei Drittel der Bewohner ohne US-amerikanische Staatsbürgerschaft und in einer vor kurzem stattfindenden Volksbefragung gaben nur zwei Prozent der Bewohner ihre Stimme ab. Die lange Geschichte der politischen Marginalität der Latino-Communities scheint sich jedoch ihrem Ende zu nähern. Die aktuelle Welle von rassistischen politischen Kampagnen (in Kalifornien vor allem Proposition 187 und landesweit die Wahlkampagnen von Ross Perot und Patrick Buchanan 1996) haben eine bemerkenswerte Gegenreaktion innerhalb der Latino-Bevölkerung herausgefordert. (In der US-amerikanischen Geschichte gibt es hierfür einen legendären Präzedenzfall: den gewaltigen Anstieg der katholischen und jüdischen Wählerschaft als Reaktion auf das Anwachsen des Ku Klux Klan während der Präsidentschaftswahlen 1928.) Im ganzen Land beantragen spanisch-sprechende Migranten in bisher beispiellosen Zahlen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Unter dem Andrang von mehr als 2,5 Millionen asiatischen und hispanischen Bewerbern sind die Einbürgerungsbürokratien inzwischen fast schon zusammengebrochen. Insbesondere für Mexikaner ist der Weg zur Wahlurne in den USA durch das kürzlich vom mexikanischen Kongreß verabschiedete Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft vereinfacht worden. 1997 haben 255 000 mexikanische Migranten den bisherigen Einbürgerungsrekord einer einzigen Einwanderungsgruppe gebrochen - er stammt bisher aus dem Jahr 1944, als 106 626 italienische Migranten den US-amerikanischen Paß erhielten. Seltsamerweise ist diese Entwicklung vor allem von erfahrenen politischen Strategen der Republikaner begrüßt worden. Der Grund dafür liegt in der Annahme, daß die stärker werdenden politischen Forderungen der Latino-Communities in Zukunft nur noch zu einer weiteren Fragmentierung und somit Schwächung der Demokratischen Partei beitragen werden. Die alte Bürgerrechtskoalition zwischen Schwarzen und Latinos, die zum ersten Mal während progressiver Kampagnen in den vierziger Jahren zum Einsatz kam und in den achtziger Jahren von Jesse Jackson neu begründet wurde, ist in den neunziger Jahren fast überall im Land auseinandergebrochen. In dem Moment, in dem sich demographisch machtvolle Latino-Communities aufmachen, ihre Ansprüche auf eine bessere Schulausbildung ihrer Kinder und mehr Stellen im öffentlichen Dienst anzumelden, finden sie sich in einem politischen Dilemma wieder: Angesichts gewaltiger fiskalischer Haushaltskrisen geraten sie immer stärker in einen erbittert geführten Konkurrenzkampf mit der lokalen Führerschaft der afroamerikanischen Bevölkerung, die sich weigert, von ihren hart erkämpften Errungenschaften an andere Gruppen etwas abzugeben. So haben zunehmende politische Spaltungen (im Unterschied zu rein marktbedingten Konkurrenzen) zwischen Latinos und Schwarzen heute schon Tür und Tor geöffnet für eine neo-republikanische Renaissance in den Rathäusern von New York City bis Los Angeles. Selbst in Los Angeles, wo Mexican-Americans wegen ihrer numerischen Stärke bald in der Lage sein werden, ihren eigenen Weg zu gehen, zeichnet sich heute schon deutlich eine strukturelle politische Sackgasse ab. Obwohl das wachsende Selbstbewußtsein der neuen ethnischen Communities vielleicht in Zukunft zu einer Eindämmung des offenen rassistischen Extremismus beitragen kann, wird es ihnen auf längerer Sicht nicht gelingen, ihre Forderungen nach staatlichen Investitionen in die sterbenden Innenstädte tatsächlich durchzusetzen. Wie in den dreißiger und sechziger Jahren hängen substantielle Reformen des politischen Systems insgesamt jedoch weniger von erfolgreichen Wahlmanövern ab, sondern vielmehr von den Ressourcen und solidarischen Gemeinschaften, die in den sozialen Kämpfen im Stadtteil und am Arbeitsplatz entstehen. Und ohne die Bedeutung der lokalen Auseinandersetzungen um Wohnungsfragen, Bildung, Luftverschmutzung, Themen der Inneren Sicherheit oder des öffentlichen Nahverkehrs mißachten zu wollen, bleibt der erfolgreiche Kampf der Gewerkschaften die zentrale Hoffnung für den Großteil der städtischen Latino-Communities. Aber auch in diesem Bereich gibt es eine lange Geschichte der Frustration und Enttäuschung. Über Jahrzehnte haben die Funktionäre der Arbeiterbewegung wenig mehr als heuchlerische Lippenbekenntnisse abgegeben, wenn es um die Rechte und die Organisierung der hispanischen Mitglieder ging. Sentimentale Lobeshymnen auf den moralischen Heroismus eines Cesar Chavez während AFL-CIO-Versammlungen gingen Hand in Hand mit der offenen Vernachlässigung der Latino-Beschäftigten auf der lokalen Ebene. Seit Ende der achtziger Jahre jedoch haben hispanische Aktivisten aus der Arbeiterbewegung einen historischen Durchbruch erreicht, sowohl auf der Betriebsebene wie auch bei internen Machtkämpfen und Gewerkschaftswahlen. Insbesondere Los Angeles County mit mehr als 500 000 hispanischen Fabrikarbeitern und 1,5 Millionen Latino-Beschäftigten innerhalb der Dienstleistungsindustrien ist zum Epizentrum und Schauplatz der dramatischsten Migrantenaufstände und -streiks seit den frühen Tagen von Cesar Chavez' berühmter Bewegung der Landarbeiter geworden. Tatsächlich erlebt der widerständige und leidenschaftliche Geist der Huelgas-Streiks aus den sechziger und frühen siebziger Jahren mitten in den Latino-Metropolen heute eine Wiederauferstehung. Seit der Kampagne "Justice for Janitors" der Hausmeister und des Reinigungspersonals in den Wolkenkratzern von Downtown und Century City Ende der Achtziger wird Südkalifornien von einer Reihe von Arbeitskämpfen erschüttert, bei denen Latinos in der ersten Reihe stehen. Den Kämpfen der Hausmeister folgten 1990 die Streikenden in den Werken von American Racing Equipment, 1992 die besonders militanten Arbeitskämpfe der Steinmetze und Sandstrahlarbeiter, 1995 der Streik der Hotelangestellten des New Otani, 1996 der Streik von Tausenden von Hafenarbeitern, 1997 der erfolgreiche Arbeitskampf der Beschäftigten in der Tortilla-Fabrik Mission Guerrero, und die aktuelle Organisierungskampagne der Gewerkschaften bei Guess Jeans. (Ein Novum in Form der Ausweitung der Ideale der Gewerkschaftsbewegung auf andere soziale Bewegungen sollte auch noch Erwähnung finden: Die zweisprachige Busriders Union in Los Angeles, die vom Labor-Community-Strategy-Center gefördert wird und Hunderte von Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs mobilisieren konnte, um gegen die ungleiche und rassistische staatliche Finanzierung des innerstädtischen Bussystems zu kämpfen.) Dank der entschlossenen Unterstützung von Bürgerrechtsgruppen und Migrantenorganisationen, liberalen Geistlichen und hispanischen Collegestudenten ist es gelungen, mit innovativen Kampfformen zahlreichen Arbeitgebern den Schlaf zu rauben. Das Repertoire an Aktivitäten und Öffentlichkeitsarbeit umfaßt: Theater und Film, pro-gewerkschaftliche öffentliche Kunstaktionen, gemeinsame Aufklärungskampagnen, die Störung von Aktionärsversammlungen, massiver ziviler Ungehorsam (von Sit-Ins in Büros bis hin zu der Blockade von Autobahnen), Kundgebungen vor den Wohnhäusern der Bosse oder den Firmen-Headquarters (sogar in Japan), offizielle Delegationen aus den Communities, Dienst nach Vorschrift und Sabotage, Gewerkschafts-Fiestas, die Umzingelung des Rathauses mit Hunderten von riesigen Lastwagen, sowie eher traditionelle Formen des Streiks und des Konsumenten-Boykotts. Die beeindruckenden Energien der Basis, die in diesen Kämpfen freigesetzt wurden, beeinflußten sowohl die Lokalregierungen wie auch die Politik innerhalb der regionalen und nationalen Arbeiterbewegung. 1997 z.B. hat sich der Los Angeles City Council gegen den Willen von Bürgermeister Riordan einem Dutzend anderer Städte (darunter San Francisco und Baltimore) angeschlossen, indem er eine Living-Wage-Verordnung für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in den Vertragsfirmen verabschiedete. Inzwischen stellt die Verankerung der Living-Wage-Kampagne mit ihren weiterreichenden Bedeutungen (der Kampf um ein besseres Leben) die Hauptaufgabe der Bewegung dar. Selbst die Handelskammer von Los Angeles sah sich kürzlich gezwungen, die bittere Armut von Zehntausenden Familien und Beschäftigten auf die Tagesordnung zu setzen. Gewerkschaftsaktivisten versuchen heute ihren Mitgliedern und den Menschen in den Stadtteilen verständlich zu machen, daß die Militanz der Arbeiterbewegung die einzige denkbare und nachhaltige Alternative zu kurzfristigen und hauptsächlich von Verzweiflung angetriebenen Gewaltexplosionen (wie z.B. während der Rodney-King-Riots) darstellen kann. Ihrer Argumentation zufolge können auch die post-industriellen städtischen Ökonomien - unabhängig von den düsteren Einschätzungen zahlreicher Geographen und Stadtsoziologen - über kollektive Arbeitskämpfe um höhere Löhne und mehr Gerechtigkeit erfolgreich restrukturiert werden. (Auch wenn die Rückkehr zum "verlorenen Paradies" des Nachkriegs-Fordismus ausgeschlossen erscheint). Zudem sei die erfolgreiche Organisierung am Arbeitsplatz immer noch der effektivste Weg, um die politische Repräsentation der sozio-ökonomischen wie auch der kulturellen und sprachlichen Rechte der Latino-Bevölkerung sicherzustellen. Dies klingt nach einer sehr überzeugenden, wenn auch eher recht traditionellen linken Argumentationsweise. Ob die neuen Mobilisierungsversuche der Gewerkschaften im Bündnis mit Community-Organisationen der Latino-Bevölkerung tatsächlich eine Chance bieten, ihrer politischen Marginalisierung in den städtischen Ghettos und der Armutsfalle zu entgehen, wird sich nur in praktischen Experimenten in Brooklyn, Houston, Chicago oder Südkalifornien beweisen lassen. Nur weitere soziale Kämpfe werden zeigen können, ob die neu entstehende städtische Latino-Mehrheit in den US-Metropolen Hoffnungsträger für eine städtische Erneuerung darstellt oder nur das ruinöse Erbe schon längst vollzogener Niederlagen antritt. Der von Britta Grell übersetzte Beitrag ist dem von Dario Azzellini und Boris Kanzleiter herausgegebenen Band "Nach Norden. Mexikanische ArbeitsmigrantInnen zwischen neoliberaler Umstrukturierung, Militarisierung der US-Grenze und amerikanischem Traum", Verlag Schwarze Risse, Berlin 1999, entnommen. - Von Mike Davis erscheint im selben Verlag im September die Aufsatzsammlung "Casino Zombies und andere Fabeln aus dem Neonwesten". http://www.jungle-world.com/_99/31/15a.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 1999 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org