________________________________________________________________________________ "Ich glaubte Gefangene zu sehen" Ein Interview mit Harun Farocki Rembert Hüser: William Martinez liegt 9 Minuten auf dem Hof, bevor er abtransportiert wird. Alles folgt einer genauen Choreographie. Harun Farocki: Sicher sprichst du von einer Choreographie, weil der Hof zum Schauplatz vorbestimmt ist. Schießbereite Wärter haben ihn im Visier, eine Kamera lauert auf einen Zwischenfall, der es wert ist, festgehalten zu werden. Martinez ist ein Insasse im Hochsicherheitsgefängnis von Corcoran in Kalifornien. Er fängt eine Schlägerei mit einem anderen Häftling an und wird niedergeschossen. Das Überwachungsvideo ist stumm, vom Schuss sieht man weißen Rauch durch das Bild ziehen. Es dauert dann 9 Minuten bevor man ihn auf einer Bahre davonträgt: angeblich muss aus Sicherheitsgründen der Hof zuvor geräumt werden, womit man sich viel Zeit lässt, Martinez hat das nicht überlebt. Obwohl das Ereignis ganz anders aussieht, als es in Filmbildern erscheint, macht es doch den Eindruck, es müsse sich ereignen und könne sich nur so ereignen; es sieht aus wie vorbestimmt. Als die zwei Männer in business-suits schließlich den Hof betreten und den Tod feststellen, ist, nachdem man zuvor schon Ausschnitte aus Stummfilmen gesehen hatte, die Bilddramaturgie endgültig im Stummfilm angelangt "- and then Martinez is gone." Und dann liegt bei Dir wieder eine Leiche da, diesmal in Farbe und alle lachen. Es ist keine Leiche. Wir sind beim Rollenspiel in der Ausbilderausbildung. Welche Choreographie antwortet in Deinem Film auf die Choreographie des Fremdmaterials? Das ja den Blick der Macht präsentiert, obwohl es mit seinen verwaschenen Schwarzweißbildern auf mehrfach überspielten Kassetten wie ein Kassiber aussieht. Ich zeige die Bilder in einer Doppelprojektion, was eine weichere Montage zur Folge hat, die gleichzeitigen Bilder und Schriften legen eher etwas nahe, als dass sie etwas ausführen. Außerdem versuche ich, sprunghaft zu sein, so wie es die plötzlichen Einfälle sind, die man bei guten Gesprächen hat. Auch das soll dieser unerbittlichen Logik des Vollzugs etwas entgegensetzen. Dazu würde passen, dass das Found Footage Material, das Du verwendest, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten läuft. Zum Teil greifst Du in das Material ein, indem Du den Bildausschnitt variierst. Du zeigst Aufnahmen verschiedener Typen von Überwachungskameras: normale Videoaufnahmen, Infrarotaufnahmen. Zweimal sind Stummfilme gegen die Bilder geschnitten: die Bestechung des Aufsehers für eine Umarmung. Der Brief in die Zelle, der die Trennung mitteilt. All das deutet auf eine umfangreiche Recherche hin. Ist der Film Teil eines größeren Arbeitszusammenhangs? "I Thought I Was Seeing Convicts" / "Ich glaubte Gefangene zu sehen", 25 Minuten lang, kam zustande, weil sich plötzlich die Gelegenheit ergab: ich wurde von den Kuratoren Ruth Noack und Roger Bürgel zur Teilnahme an einer Ausstellung mit dem schönen Titel "Dinge, die wir nicht verstehen" eingeladen, das war letzten November und schon im Januar dieses Jahres war die Arbeit fertig. Schon vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit zu einem größeren Projekt über Gefängnisbilder angefangen. Da soll es insgesamt darüber gehen, wie das Gefängnis in Filmbildern erscheint. Aber das Geld für die Arbeit in Filmarchiven kam nicht zusammen, und so fing ich in den USA an, zunächst nach Bildern aus Überwachungskameras zu suchen. In den USA gibt es bekanntlich weit mehr Gefangene als in anderen reichen Ländern. Die prison population wächst ständig an, ohne dass die Kriminalität zunähme! Die meisten Insassen sind schwarz und viele Strafen sind so skandalös hoch, dass die Aktualität mich mitriss. Ich war kurz davor, einen agitatorischen Film zu machen oder einen Film wie ein Flugblatt. Warum nicht? "Ich glaubte Gefangene zu sehen", ich übertreibe es mal, hat auch etwas von einer Literaturverfilmung, die einen Agitproptext verbessert. Ich sag mal, Du filmst einen Aufsatz von Gilles Deleuze "Das elektronische Halsband. Innenansichten der kontrollierten Gesellschaft"; und was dort reichlich theatralisch an Thesen zur "Kontrollgesellschaft" daherkommt, wird bei Dir ein Arbeitsfeld. Wie bist Du an die Aufnahmen aus Überwachungskameras herangekommen? Wir sagten den Behörden, wir wollten die neue Technik in den Gefängnissen dokumentieren, und das war ein gutes Ticket. Ich glaube deshalb, weil die Gefängnisse fast der einzige Ort sind, an denen die Produktivität nicht zu steigern ist, die Gefangenen werden zwar immer mehr, aber die Wärter können nicht jeden Monat 100 Gefangene mehr kontrollieren, da glaubt man, mit Geräten könne man wenigstens symbolisch mit der allgemeinen Beschleunigung und Steigerung mithalten. Und so bekamen wir Gelegenheit, entweder selbst etwas mitzuschneiden oder ein altes Band zum Kopieren zu kriegen. So kamen wir an die Bilder der Wasserkanonen, mit denen die streitenden Häftlinge auseinander gespritzt werden, oder die Bilder aus dem Besucherraum, wenn Häftlinge und Besucherinnen unerlaubte Zärtlichkeiten austauschen. Auf einmal ist da wieder das Bild der Liebe, die sich gegen das Verbot behauptet wie ein Naturrecht! Wir stießen auch auf einen Bürgerrechtler, der von Beruf Detektiv ist. Ein interessanter Mann, er ist ein Blumenberg-Fan und hat eine wunderbare Bibliothek. Wahrscheinlich beobachtet er vom Parkplatz aus den Hinterausgang eines Nachtclubs und liest dabei etwas aus Münster, über die Buch-Metapher, das Buch, das die Welt bedeutet. Er hat viele Stunden Material von den Pausen- Höfen in Corcoran. Das sind schattenlose Kreissegmente aus Beton, die vollständig im Sichtfeld der Überwachungskamera liegen und auch im Schussfeld der Gewehre. Man sieht die Häftlinge Sport treiben, und sehr oft fangen sie eine Schlägerei an. Seit der Eröffnung gab es tausende von Schlägereien, und etwa 2000 mal haben die Wärter geschossen, hunderte wurden verwundet, ein paar Dutzend schwer, fünf wurden erschossen. Geschossen wird zuerst mit einem großkalibrigen "Anti-Riot"- Gewehr, dann mit scharfer 9mm-Munition. Ich glaubte Gefangene zu sehen hört auf mit dem Satz "Suddenly there is no longer any reason to shoot at prisoners". Vorher zeigst Du, dass allein schon aufgrund der Architektur Blick und Gewaltausübung nicht voneinander zu trennen sind. Ist der Satz ironisch? Ein klein bisschen Glaube an den humanen Strafvollzug ("Es geht doch, wenn sie nur wollen")? Die Ironie ist anders gerichtet: es wird all zu deutlich, dass es nie einen Grund gab, auf die Häftlinge zu schießen. Und wenn man damit so einfach aufhören kann, braucht es einen ebenso kleinen Anlass, damit wieder anzufangen. Außerdem ist das massenhafte Einsperren, sind die Todesurteile und Erschießungen auf Höfen anachronistisch. Man muss davon denken, es sei nicht an der Zeit, so zu handeln - aber es geschieht. Das politische Denken muss sich damit abfinden oder dazu emporarbeiten, wieviel Unzeitgemäßes geschieht. Der Titel Deines Films ist ambivalent. Er ist ein Zitat aus Rossellinis "Europa '51" - Ingrid Bergmann sieht Arbeiter: "Ich glaubte, Verurteilte zu sehen" - und scheint damit auf den ersten Blick den programmatischen Humanismus dieses Films zu unterschreiben. So im Sinne von "aber jetzt sehe ich 'die Menschen'". Die Archaik einiger Metaphernfelder, die Du im Film verwendest: Brotbacken, Tiereschlachten, Münzen, Gladiatoren, könnte dazu passen. Auf der anderen Seite kann "glauben" sich aber auch auf "sehen" beziehen. Und da zeigt Deine Demonstration der Überwachungstechnik amerikanischer Gefängnisse, dass dieser Humanismus, in dessen Namen ein Großteil dieser Technologie eingeführt worden ist, die Gewalt allererst generiert, die er zu verhindern vorgibt. Indem er etwa aus den Gefangenen ein Videospiel macht. Ingrid Bergmann denkt ans Gefängnis, als sie - für einen Tag - in einer Fabrik arbeitet. Am Ende sperrt man sie in eine Klinik. Mit Rossellinis Film entwirft sich ein zusammenhängendes Weltbild. Das ist wohl nicht zu halten, aber der Film hat für mich große Bedeutung, weil er eine Haltung bekundet, die sich mit dem Unrecht nicht abfinden will. Eine solche Unbedingtheit ist nötig, auch wenn es um viel Geringeres geht als die Nachfolge Christi, wenn es nur darum geht, einen klaren Gedanken zur Gegenwart zu fassen! In diesem Sinne verstehe ich Angela Davis, die für die Abschaffung der Gefängnisse eintritt. Nicht Institutionen, die Gemeinschaft soll sich um die Menschen kümmern, die Straftaten begehen, diese Forderung trifft etwas. In den USA setzen aber auch Aktivisten die These in Umlauf, die Weißen wollten die Sklaverei wieder einführen, weil so viele Gefangene schwarz sind und weil die Arbeit der Gefangenen so stark ausgebeutet wird - wer in US-Gefängnissen arbeiten lässt, kann vielleicht sogar mit der Arbeit aus chinesischen Gefängnissen konkurrieren! Vielleicht taugt das Wort 'Sklaverei' als Kampfbegriff, ich glaube aber, mit einer ökonomischen Theorie kommt man hier nicht weiter. Du überprüfst in Deinem Film aber schon ökonomische Kategorien im Kontext "Gefängnis", "acceleration" und "increase" werden in einem Zwischentitel genannt - was kann das dort meinen? Deine Recherche konzentriert sich sehr stark auf das Verhältnis von Technik und Körper. Man hat die Inmates und Wachmannschaften gemeinsam auf einer Seite ("They have nothing other than their body - and the membership in a gang"), man hat die Geometrie (der Höfe von Corcoran), den Radius der Kameras und die elektronischen Repräsentationen von Identität in den Kontrollräumen, und man hat die allesübergreifende Langeweile und Monotonie. Was dieses Szenario produziert, sind "erwartbare Unwahrscheinlichkeiten": Liebe und Tod. Was ist das für eine Ökonomie? Diese drakonische Straferei in den USA steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Geist, der sonst herrscht. Deleuze sagt, die klassischen Macht-Einrichtungen, Schule, Gefängnis, wären in der Krise, und vielleicht gehört das gesteigerte Einsperren zu der Krise der Institution Gefängnis! Ich ließ mir durch den Kopf gehen, ob es gerade deshalb eine solche Ungeduld gibt mit denen, die nicht funktionieren, gerade weil es sonst so wenig Zwang gibt. Als ob Eltern sagten: Nun haben wir dich nie geschlagen, und dennoch... Dieses Bild von den Häftlingen, die sich prügeln, obwohl sie wissen, dass man auf sie schiessen wird. Sie sehen aus wie Gladiatoren, aber ihr Spektakel ist nicht öffentlich. Die Überwachungskamera parodiert Öffentlichkeit, sie verbreitet das Ereignis nicht. Es ist, als wäre die Kamera das römische Stadtproletariat, das mit einem Schauspiel bei Laune gehalten werden soll. "Ich glaubte Gefangene zu sehen" hat seine Deutschlandpremiere auf dem Dokumentarfilmfestival in Duisburg (6.-12.11.) am 7. November. (spex 11/00) ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive