________________________________________________________________________________ Agentur Bilwet Ontologie des Zoegerns "Content kills consciousness." Johan Sjerpstra Was du morgen besorgen kannst, das tu' niemals heute. "Wann geht der Bus?" "Maqana, maqana." Auf dieses Prinzip des Troedelns und Zoegerns bauen ganze Weltkulturen. Wir muessen die touristische Barriere durchbrechen, um an dieser ueberlegenen Lebenskunst teilzuhaben. Bis vor kurzem war es die Erfahrung des Anderen, fuer uns unerreichbar. Dank Virilio, Sloterdijk und Gleick ist nunmehr das Zeitalter der Enthastung angebrochen. Troedel-Gurus bieten inzwischen Managementkurse an, die lehren, Dinge etwas langsamer anzugehen. Es geht um den Mut zum Zaudern. Kannst du zweifeln, Mensch. Es gibt Phasen, in denen ungeplantes Loslaufen die beste Vorgehensweise ist. Doch danach folgt die Periode der Besinnung, in der die Resultate auf ihre Vorteile untersucht und, wenn mvglich, angepasst werden. In der europdischen Tradition des to-be-or-not-to-be wurde der Zweifel als Methode Descartes' zur Lebensphilosophie erhvht. Er bietet eine offene Verbindung zur Wirklichkeit. Das Lieber-doch- nicht hat die bequeme Anmut, welche der resoluten Weigerung als Pose fehlt. Endloses hin und her und es dann doch bleiben lassen. In diesem Sinn ist Easy Listening ebenso radikal wie Punk. Das Alles-zu-seiner-Zeit-Denken baut auf dem Erfahrungswissen auf, dass das Problem sich sicherlich von selbst lvst, wenn man es in Ruhe laesst. Dieses Verdampfungsmodell hat sein Pendant im apokalyptischen Modell: wenn wir nicht schnell genug nichts tun, geht alles vor die Hunde. So klingt das Erkennungszeichen des heutigen Unbehagens an der Kultur in seiner historischen Variante: "Wenn die Affen damals in den Baeumen sitzen geblieben wdren, gaebe es heute kein Problem. Vorsorgen ist besser als abstuerzen. Im Bedeutungsmangel dieser Easy Philosophy verbirgt sich ihre groesste Kraft. Die Unentschlossenheit triumphiert. Wer hat den Mumm, halbgare Wahrheiten zu widerlegen? Die post-oestliche Weisheit hat nicht ldnger den Drang, alles wiederzufinden, was die Menschheit auf ihrem Weg verloren hat (Zivilisation, [Unter- ]Bewusstsein, Glaube, Geschichte, Wirklichkeit, etc.) Man errichtet eher einen mentalen Nebel, als leidenschaftlich in der Muellkippe des Fortschritts zu waehlen. Die Gestaltung der Passivitaet ist der geheime Schluessel zum 21. Jahrhundert. Der Zweifel Descartes' ist noch funktional: er bietet Klarheit. Der durch ihn ervffnete Raum fuer Reflexion wird geordnet. Das ist die vernuenftigste Methode, die Wuestenei zu durchqueren. Die Skepsis des Zauderns steht diesem gleichwertigen Gebrauch von Denkfaehigkeit misstrauisch gegenueber. Zweifel ist keine oekologische Geste. Auf jener Seite von Unmittelbarkeit und Interaktivitaet steht das Hinausschieben jeder Konsequenz. Einmal abgekommen, landet man all zu schnell im Graben. Das positive und assoziative Element der Abweichung fehlt. Die Ueberraschung bringt wenig Neues und enttduscht, eine Ernuechterung, aus der kein Help Desk einen Ausweg bieten kann. Hier fehlt jede religioese Konnotation. Das Nichts nichtet - wenn es denn so waere. Das Zaudern ist ein intellektuelles Perpetuum mobile, eine zum Erliegen gekommene Junggesellenmaschine. Aus dem Nichtstun heraus tut man noch weniger. Philosophien und ihre Medien dagegen sind darauf aus, Denken stromlinienfoermig zu machen und mit einer Richtung auszustatten. Wissbegierde will den Uebergang vom Denken zum Tun ermoeglichen. Der Noergler braucht diese Handreichung. Das Handeln durchbricht dieses Tretmuehle der endlosen Nvrgelei. Babygeschrei, Schule schwaenzen, Bummeln bei der Arbeit, auf der Strasse herumhaengen, sich zu Hause gegenseitig auf die Nerven gehen, sich plagen qua eigner Ambition, das alles wetteifert mit den vielen Jahren, die in einem Menschenleben verschlafen werden. Die westliche Kultur ist ein grosser Wecker, der bald auch seine genetische Modifizierung im Wachsamkeitsgen entdecken wird. Die US-amerikanische Variante des Zoegerns hat etwas energisches. Eben schnell Nachdenken, bevor man etwas tut, ist Geld wert. Doch der Mensch des 21. Jahrhunderts ist einfach noch nicht so weit. Zweifel ist nur am Ende der Fahrt erlaubt, in der sicheren Umgebung der Privatsphdre. Enthastung ist eine Phase im alltaeglichen Zyklus a la eine erfrischende Dusche oder eine Siesta. Mit dem Unterschied, dass eine Enthastung als Gegensport ein Produkt/eine Dienstleistung ist die man sich selbst gestatten koennen muss, um damit weiter funktionieren zu koennen. Das Auf-der-Stelle-Treten ist ein Moment in einem oekonomischen Zyklus, der ebenso resolut angepackt wird, wie der vorausgehende Start-up. Das ist der Zeitpunkt, in dem die Gruender von selbsternannten Buerokraten aus dem Unternehmen vertrieben werden. Das Chaosmanagement versucht, diese vorhersehbare Konjunktur durcheinander zu bringen, indem permanent alles, aber auch alles, in Frage gestellt wird. Man sucht nach einer noch raffinierteren tempordren Bilanz, um welche Planung auch immer auf die Beine stellen zu kvnnen. Die Strategie des Mobilisierens, Flexibilisierens, inklusive der kreativen Destruktion, hat allerdings einen unsichtbaren und nicht benennbaren Feind: den Zweifel. Es wird noch immer nicht gehandelt in der verlorenen Zeit. Das ist eine Option oder Ware, die noch nicht entdeckt ist. Proust hat vergessen, ein Patent darauf anzumelden. Die Moeglichkeitsraeume, die sich in der Zukunft auftun kvnnten, sind in ihrem Wesen noch unbestimmt. Das Streben nach maximaler Undeutlichkeit liegt als (ueber- )menschliches Potential noch vollkommen brach. Es existiert eine Kunst des Aufhoerens, die frei von jeder Irritation ist. Einmal hinausgezoegert, ergibt sich eine ganz andere Aesthetik, die den Augenblick weiter so laesst, wie er ist. Das sind die Verzoegerungsmaschinen. Die Technologie verringert den Zeitraum der Entscheidung noch weiter. Zwischen 0 und 1 befinden sich immer weniger Picosekunden. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass der Entscheidungsmoment fuer den Menschen nicht mehr existiert und kuenstlich eingebaut werden muss. Man kann hierfuer ein kybernetisches System errichten, aber das geht nicht weit genug. Es muessen Zweifelmaschinen auf den Markt kommen, (Made in West-Germany?) die zielgerichtet die Sache aufhalten. E-Commerce-Sites, die, nachdem man den Buy-Button angeklickt hat, erst einen Tag oder so nachdenken, ob sie wirklich liefern wollen, oder den Hinweis geben, dass man auch morgen noch vorbeikommen kann. Ein Fotoapparat, der nach dem Druecken erst eine unbestimmte Zeit spdter (oder frueher?) das Foto macht. Technische Unsicherheit nicht ldnger als Bug sondern als Feature. Sobald Perfektion garantiert ist, kommt der Kultur das spielerische Element abhanden und die Aufmerksamkeit erlahmt. Je unwahrscheinlicher das Verhalten der Maschine, desto interessanter die eigenen Reaktionen. Es geht darum, die binaeren Logiken zu erweitern. Nicht nur Ja oder Nein, sondern mindestens auch Ja und Nein als dritte Einheit, wie im Quanten- Computing. Wo erklingt das Lied des Zweifels? Den eigenen Dreh nicht finden, ist keine Tugend. Nietzsche schrieb auch nicht darueber. Die Zwischenstadien von Zaudern, Bummeln und Nerven, in denen doch die meisten von uns stecken bleiben, landen nicht im Pantheon des menschlichen Seins. In China durfte man noch gern nach einem Schwimmer schauen und im Wasser Kreise spucken. Nun, da der Arbeitsethos bald den gesamten Globus umspannt und Arbeit fuer Geld gleichbedeutend ist mit der condition humaine, ist es aus mit diesen letzten Eitelkeiten. Fortan herrscht eine permanente geistige Mobilisierung, ohne dass das Ziel selbst, die Arbeitsfront, je erreicht wird. Arbeit wird als Spieltherapie betrachtet, als Teil des lebenslangen Lernens. Post-industrielle Arbeit besteht logischerweise nicht mehr aus (physischer) Produktion, sondern aus einer mentalen Vorbereitung auf einen produktiven Moment. Irgendwann, irgendwo, vielleicht nie. Jeder weiss, dass die Zukunft in Afrika liegt. Aber wer ist so weit, diese Post-Destination ganz und gar zu akzeptieren? Die vorherrschende Meinung ist, dass noch so viel daran getan werden muss und kann. Es gibt so Vieles, zu dem man nicht kommt. Besser als zu trvdeln, ist es, ueberhaupt keinen Plan zu haben. Und das nicht als meditatives Moment oder Strategie, um den ueberlaufenen Kopf frei zu machen. Die Drosselung der Zielsetzungen auf einen Zeitraum, der Jahrtausende umfasst, macht aus der Landschaft der Zeit eine Hochebene, von der man nie mehr herunter kommt. Uebersetzung: Petra Ilyes (mehr von Bilwet auf http://thing.desk.nl/bilwet) ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive