________________________________________________________________________________ Hi! Hier ist Version 0.5 eines Textes, den ich ueber Software- Projekte von Künstlern geschrieben habe. Er kommt in drei Teilen, weil er recht lang ist. Kommentare, Hinweise, Aenderungsvorschlaege sind willkommen! Gruesse, Tilman -----------SCHNAPP!----------------- Experimentelle Software Zu einigen neueren Computerprogrammen von Künstlern Von Tilman Baumgärtel "Software is mind control. Come and get some." Slogan der Londoner Künstlergruppe I/O/D für ihr Programm "Web Stalker" I. Mysteriöse Korrespondenzen Am 14. Februar 1972, am "Valentinstag", wie er im Briefkopf pflichtschuldig anmerkte, schickte der amerikanische Künstler Ray Johnson eine Einladung zum "lang erwarteten, mysteriösen zweiten Treffen der New York Corraspondence School" in der Wabash Transit Gallery in Chicago an eine Reihe von Künstlerfreunden und -kollegen. Persönliche Anwesenheit war beim dem Treffen nicht nötig. Stattdessen bat er die Adressaten seines Schreibens darum, "mysteriöse Corraspondence" an die Galerie zu senden, wo sie in einer Ausstellung mit dem Titel "Intercourse" (Verkehr, Umgang) gezeigt werden sollte. Ray Johnson gilt wegen derartiger Aktivitäten heute als Begründer der Mail Art. Seit 1959 verschickte er kleine Arbeiten als Brief; in den 60er und 70er Jahren arbeitete er in einem unaufhörlichen Recycling-Prozess alles um, was er per Post bekam, und es schickte es an Künstlerkollegen, Freunde und Bekannte weiter. Zu dem losen Netz von Künstlern, das an diesem Kunstvertreib teilnahm, gehörten unter anderem Ken Friedmann, Dick Higgins, Ben Vautier, Arakawa und das Kollektiv General Idea. In seinem völligen Verzicht auf eine materiell repräsentierbare Kunst galt Johnson darum den wenigen Menschen, die sein Werk überhaupt kannten, als ein Vorreiter der Konzeptkunst. Das Whitney Museum, das nach seinem Selbstmord 1995 seinen Nachlass erhielt, hat im vergangenen Jahr die erste Retrospektive eingerichtete, die das Oeuvre Johnsons endlich einer breiteren Kunstöffentlichkeit bekannt machte. Die Ausstellung - und vor allem der opulente Katalog - machten für viele zum ersten Mal nachvollziehbar, dass Johnson als wohl erster Künstler überhaupt einen der zentralen Distributionskanäle für Information als Plattforum seiner Kunst entdeckt hatte. Er machte die Post nicht nur zum Gegenstand seiner Arbeit, sondern begab sich tatsächlich in das Netzwerk des internationalen Briefverkehrs hinein und machte ihn zum zentralen Ort seiner künstlerischen Produktionen und Interventionen. Johnson verweigerte sich dem Kunstsystem mit seinen Galerien und Museen nicht, wie die große Zahl seiner Ausstellungen bezeugt. Doch für den Kunstbetrieb war seine Arbeit nicht nur schwer zugänglich, sondern vor allem auch kaum zu repräsentieren, weil sie an einem so kunstfremdem Ort wie, naja, wie dem Briefkasten stattfand. Johnson selbst hat Zeit seines Lebens versucht, die Mail Art von seinen Kollegen und sich selbst wieder in den Kunstbetrieb und vor allem auch in den Kunstmarkt einzuschleusen. Die oben zitierte Einladung ist nur eine von vielen Arbeiten (Werken? Aktionen?), mit denen er Kollegen dazu aufforderte, Mail Art an wichtige Sammler, Journalisten und Galeristen zu senden, um ihnen die Stärke und die Bedeutung dieses künstlerischen Netzwerks der Mail Art zu demonstrieren. Unter den Arbeiten, die in seinen Ausstellungen zu sehen waren, fanden sich immer wieder auch Briefe und Postkarten, die nicht nur andere Mail Artists darum baten, ihre Arbeiten an Dritte zu verschicken. Johnson verschickte auch gerne Aufforderungen, die Einladung zur Produktion von Mail Art selbst an andere künstlerische Kollaborateure weiterzusenden. Es waren Briefe, die neue Briefe, am besten gleich eine ganze Briefflut, auslösen sollten... II. Mehr und mysteriösere Korrespondenzen Am 4. Mai 2000 versendete jemand - wahrscheinlich ein oder mehrere philippinische Informatikstudenten, die genauen Umstände werden zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Text verfasst wird, noch von der lokalen Polizei untersucht - eine E-Mail mit dem verführerischen Titel "I LOVE YOU". Die Mail war jedoch kein elektronischer Liebesbriefe, wie der "Header" vermuten ließ, sondern enthielt einen Virus, der ein perfides Eigenleben entwickelte, wenn der Empfänger sie öffnete (oder dumm genug war, das Mailprogramm "Outlook" von Microsoft zu benutzten). Der Computervirus zerstörte nicht nur wichtige Dateien auf den Rechnern der hilflosen User, sondern sendete sich auch gleich an alle E-Mail-Adressen weiter, die im Mailprogramm des Opfers gespeichert sind. "I LOVE YOU" war nicht der erste derartige E- Mail-Virus, aber der bis dahin wirkungsvollste: der Virus ging um die Welt und soll dabei Schäden in der Höhe von mehreren Milliarden Dollar angerichtet haben, wie die Tagespresse berichtete. Gerade als die mutmaßlichen Urheber der "I LOVE YOU"-Mails gestellt worden waren, tauchte im Internet eine neue Version dieses Virus auf: "NEW LOVE" war noch schwerer zu identifizieren: wiederum per E-Mail zugesandt, überschreibt es nicht nur Dateien auf dem angegriffenen Computer, zum Teil sogar die gesamte Festplatte - dank des angehängten Programms verändert es auch jedes Mal seinen Namen, bevor es sich selbst weiterschickt. Wie "I LOVE YOU" ist auch "NEW LOVE" kein besonders anspruchsvolles, komplexes Programm, sondern ein relativ simpler Hack, der von Informatikstudenten in den ersten Semestern geschrieben werden kann. Die beiden Viren haben nicht nur einer großen Zahl von Internetnutzern die Augen dafür geöffnet, wie anfällig das Netz der Netze für Attacken von übelwollenden und oft blutjungen Amateuren nach wie vor ist; im Zusammenhang mit dem Thema dieses Artikels fällt bei den beiden E-Mail-Viren vor allem eins ins Auge: die Killerprogramme produziert Briefe - in diesem Fall elektronische Briefe, ja, eine ganze Briefflut. "I LOVE YOU" produzierte einen unkontrollierbaren Massenversand von Emails. Darin erinnert er an Ray Johnsons Mail Art-Aktivitäten, die ja zum Teil ebenfalls viele Briefe an einen Empfänger auslösen sollten. "NEW LOVE" geht noch weiter und modifiziert diese Emails sogar noch bis zur Unkenntlichkeit. Darin gleicht der Virus ebenfalls der Mail Art von Ray Johnson, der seinen Posteingang ebenfalls modifizierte und dann bearbeitet weiterschickte. Achtzehn Jahre nach Johnsons konzeptueller Mail Art vom Valentinstag des Jahres 1972 war im Mai 2000 seine künstlerische Idee zum Programm geworden, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: ein von philippinischen Twentysomethings zusammenhacktes Stückchen Code in der Programmiersprache Visual Basic. III. Sets of instructions Man muss nicht gleich - wie der slowenische Internetkünstler Vuk Cosic - glauben, dass "die... Mittel, die Marcel Duchamp oder Joseph Beuys oder die frühen Konzeptkünstler entwickelt haben, heute zu vollkommen normalen Vorgängen geworden" sind, "die du jedes Mal wiederholst, wenn du eine Email verschickst" - auch wenn der Vergleich von Ray Johnsons Mail Art aus den 60er und 70er Jahren und den E-Mail-Viren der Gegenwart derartige Schlüsse durchaus nahe legen. Doch die Parallelen zwischen den Computerviren von heute und der Kunst der Moderne, die - wie die Mail Art, Fluxus oder die Konzeptkunst - im 20. Jahrhunderts die Beschreibung und Präsentation von Ideen gegenüber ihrer materiellen Umsetzung bevorzugten, sind nicht von der Hand zu weisen. Die oben beschriebenen künstlerischen Experimente von Ray Johnson mit der Post sind genauso wie die Handlungsanweisungen von Fluxus- und KonzeptkünstlerInnen wie Yoko Ono oder Sol LeWitt im Kern eins: "sets of instructions" - so wie die aneinandergereihten Befehle, aus denen ein Computerprogramm besteht. Auch eine Software wie der Texteditor, mit dem dieser Essay geschrieben wird, oder das E-Mail-Programm, mit dem er nach Fertigstellung an die Redaktion versendet wird, geben dem Rechner "instructions", Anweisungen. Dieser Artikel handelt von einer Reihe von Kunstprojekten, die ebenfalls "sets of instructions" sind - allerdings keine, die - wie bei der Konzeptkunst - mit der Schreibmaschine auf Papier getippt wurden, sondern die im Computer des Users stattfinden. Diese Arbeiten sind keine Kunst, die mit dem Computer geschaffen wurde, sondern Kunst, die im Computer stattfindet; keine Software, die von Künstlern programmiert wurde, um autonome Kunstwerke hervorbringen, sondern Software, die selbst das Kunstwerk ist. Bei diesen Programmen ist nicht das Resultat entscheidend, sondern der Prozess, den sie im Rechner (und auf dessen Monitor) auslösen. In diesem Sinne nehmen sie ein Thema der zeitgenössischen Kunst auf: wie bei der Performance, bei der Videokunst, bei Aktionen im öffentlichen Raum und bei "sozialen Skulpturen" a la Joseph Beuys zählt weniger das, was sie am Ende hervorgebracht haben (und in vielen Fällen kommen sie nie zu so einem "Ende"), sondern vielmehr der Vorgang selbst, den sie ausgelöst haben. Diese künstlerischen Software-Projekte sind (wie jede Art von Software) eine "time-based art". Sie gehen weiter und weiter und weiter, solange der Rechner an ist (und manchmal auch, wenn er ausgeschaltet ist) oder solange sich jemand mit ihnen beschäftigt. Im Gegensatz zu vielen künstlerischen Arbeiten der Gegenwart, die sich als "Projekt" bezeichnen, tragen sie diesen Titel zu recht: ein Projekt ist - nach Duden-Definition - ein "Entwurf", ein "Vorhaben", auf jeden Fall keine abgeschlossene Aktivität. Die Programme von Künstlern, um die es in diesem Text geht, gehorchen einer generativen Ästhetik, sie hören sie nicht auf weiterzumachen, solange Strom und ein Computer da sind. Dadurch entziehen sie sich - wie die Mail-Art - der Repräsentationslogik des gegenwärtigen Kunstbetriebs. Auszustellen gibt es bei diesen Arbeiten nichts mehr; die meisten von ihnen sind "Stand-Alone-Applications", die umsonst aus dem Internet heruntergeladen werden können und friedlich, fast selbstzufrieden, auf der Maschine des individuellen Users laufen. In diesem Essay geht es um einige künstlerische Software-Stücke: Screensaver, modifizierte Computer-Spiele, Internet-Browser, mit denen man sich durch das WorldWideWeb manövriert kann (oder auch nicht), aber im Sinne eines "vernünftigen" Computergebrauchs vollkommen sinnlose Analyseprogramme für die Festplatte des Users, oder vollkommen autonome Programme, die man auf dem PC genauso wie auf dem Handy laufen lassen könnte. Nicht alle von ihnen stellen ihr Funktionieren so stark in den Vordergrund, dass die Parallelen zu ihren konzeptuellen Vorläufern so offensichtlich ist wie die "Permutationskunst" des Amerikaners John Simon, der eigene Programme in Java-Code geschrieben hat . Doch ihnen allen ist gemeinsam, dass sie den Desktop des Computers zum Ort und zum Gegenstand ihrer künstlerischen Experimente gemacht haben. Damit sind sie auch ein Stück "Public Art", dass allerdings nicht mehr im öffentlichen Raum, wie er traditionellerweise verstanden wird, existiert, sondern an einem immateriellen Nicht-Ort: auf der grafischen Bildschirmoberfläche des Rechners. IV. Bildschirmschoner "Nowhere in the recent revolution in the aesthetic of the computer have software engineers been more inventive than in the proliferation of various kinds of screen-savers. Although this misleading pedestrian expression suggests things as useful and unglamorous as safety goggles and glare guards, screen-savers are a fascinating new form of electronic poetry whose intricate, fluctuating patters have transformed the computer terminal into nothing else that a radical experiment in corporate art", schreibt der amerikanische Publizist Daniel Harris in einem brillianten Aufsatz über Bildschirmschoner . Ob es sich bei den fliegenden Toastern und sich selbst verlegenden, endlosen Röhren, den psychedelisch wabernden Muster und den herumfliegenden Slogans und Produkt-Logo, welche die Bildschirme von Computern im Ruhezustand schmücken, um "Unternehmenskunst" handelt, wie Harris glaubt, sei einmal dahingestellt. Auf jeden Fall sind Bildschirmschoner ein perfektes Vehikel für eine Künstlergruppe, die sich mit einer gestylten "Corporate Identity" gerne als eine Art Kunstunternehmen präsentierte: General Idea hat 1996 für das New Yorker Museum of Modern Art und die Netzkunstgalerie "äda:web" einen Screensaver entwickeln lassen, bei dem in einer ununterbrochenen Wiederkehr des ewig Gleichen ihr bekanntes "AIDS"-Logo immer wieder mit der "LOVE"- Vorlage von Robert Indiana kollidiert. Wie General Idea arbeitet sich auch der Belgier Francis Alÿs mit "The Thief" an der zirkulären Struktur seines Gegenstandes ab: wieder und wieder steigt ein schattenhafter Mann durch ein kleines hell leuchtendes Fenster in der Mitte des Monitors - offenkundig ein Ausbruchsversuch aus dem "Windows"-Interface, wenn auch nur ein simulierter. Ein kuratorischer Text, der die Arbeit begleitet, weist auf die Parallele zwischen der Plazierung des Fensters im Fluchtpunkt des Bildschirms und der Zentralperspektive der Renaissance hin: "With his systematization of a one-point perspectival system for illusionistic representation, Leon Battista Alberti offered painters a method of constructing a space that was coherent and cohesive when viewed from a single position: painting thus came to simulate a window onto a world beyond, a fictional yet mimetically convincing milieu. For… Alÿs, the momentous influence of Alberti's codification on subsequent methods of visual representation finds a telling contemporary analogue in the spatial tenets embodied in today's ubiquitous electronic technologies. Arguably, Windows 95 may embody and consequently canonize for virtual space much of the revolutionary potential that Alberti's model did for those illusory worlds first limned in the early Renaissance." Doch auch wenn Alÿs' Arbeit als kritischer Kommentar der Omnipräsenz der Windows-Metapher auf Computer zu verstehen ist, bleibt die Arbeit letztlich - im Wortsinn - an der Oberfläche: sie beschäftigt sich mit den grafischen Metaphern, mit denen die Funktionen des Rechners "benutzerfreundlich" visualisiert werden. Radikaler und grundsätzlicher geht "SoftSub" von dem kalifornischen Kollektiv C5 an den Rechner heran: das Programm, das es wahlweise als Bildschirmschoner oder als eigene Software gibt, unterzieht die Festplatte des Benutzers einer quantitativen Analyse. Wenn der Rechner einige Minuten lang nicht benutzt wird, schaltet sich das Programm automatisch an, und beginnt den Computer zu durchsuchen und die gefundenen Dateien in einer abstrakten Grafik zu visualisieren. Darin unterscheidet es sich kaum von Festplattenanalyse-Software wie "ScanDisk", die mit "Windows" ausgeliefert wird. Die Grafik, die so entsteht, fehlt freilich, im Gegensatz zu der Festplatten- Überprüfung von "ScanDisk", jeder Gebrauchswert: die Datenverteilung im Computer wird in grünlichen Feldern auf dem Bildschirm gemalt. Wie ein U-Boot, dass der Arbeit auch den Titel gegeben hat ("Sub" ist eine Abkürzung für "Submarine") bewegt sich das Programm über die Partitionen der Festplatte, und sammelt Daten. Ist der Vorgang abgeschlossen und der dynamisch generierte "Schnappschuss" der Festplatte fertig, öffnet das Programm automatisch eine Internetverbindung und lädt das "grafische Profil" auf den Web-Server von C5. Dort wird das Bild der Festplattenbelegung mit anderen dort gespeicherten, kartografierten Festplatten verglichen und automatisch in der Nähe von ähnlichen Bildern in eine sogenannte "Ontologie" einsortiert. Mit der Arbeit wollen die Künstler "eine nicht-kausale und nicht einem Darstellungsmodell verpflichtete Art der Repräsentation von Wissen" zeigen. Ihr Programm betrachten sie als eine neue Methode, um Daten zu organisieren und zugänglich zu machen: "Es besteht ein großer Bedarf für neue Techniken und Instrumente, um den Menschen automatisch und interaktiv bei der Analyse von komplexen Daten zu helfen und dabei nützliche Informationen zu entdecken." Freilich ist "SoftSub" keine Nutzen-orientierte Software, sondern ein Kunstprojekt. Um "nützliche Informationen" zu finden, hilft es herzlich wenig. Mit "SoftSub" die Festplatte nach Daten durchsuchen zu wollen ist etwa so, als würde man versuchen, sich mit einem topologischen Atlas auf der Autobahn zu orientieren. Aber "Nützlichkeit" sollte man von einem Kunstwerk nicht erwartet, auch wenn es so tut, als sei es ein Diagnoseprogramm für Computer. Der einzige "Gebrauchswert", den "SoftSub" hat, ist ein anderer Blick auf die Daten, mit denen man am Rechner interagiert: nicht als geordnete Informationshäppchen in einem grafischen Interface, das auf Mouse-Klick reagiert, sondern als kryptische Cluster von digitalen Daten, die nichts über sich preisgeben, als ihre Position auf der Festplatte. V. Interfaces So untergründig und für die meisten Computerbenutzer wohl auch schwer nachzuvollziehbar "SoftSub" seine Runden durch die Informationen auf der Festplatte zieht, so unzweideutig und "in your face" ist das Programm "OSS" von dem Künstlerduo Jodi. Die Arbeit besteht aus sieben kleinen Programmen, die von rätselhaften schwarzen Icons repräsentiert werden und kryptische Namen wie "%20" oder "#Reset" tragen. Wer auf eins der Symbole klickt, denkt danach wahrscheinlich, der Computer sei kaputt: weißes Rauschen rieselt über den Bildschirm, nur gelegentlich taucht ein Zeichen auf, das entfernt an die bekannten Computer- Symbole erinnert. Wahlweise kann man seinen Windows-Rechner auch in einen verhaltensgestörten Macintosh-Computer verwandeln, der bei jedem Mouse-Klick kurze Silben von sich gibt oder den Desktop mit sinnlosen "Windows" und "Pop-Up-Menüs" füllt. Das als CD-Rom mit der holländischen Design-Zeitschrift "Mediamatic" vertriebene Werk macht sich selbstständig, sobald die CD in das Laufwerk des Computers eingeschoben worden ist: plötzlich ruckelt der Bildschirm auf und ab wie bei einem kaputten Fernseher; Fenster öffnen sich ohne nachvollziehbares System genauso wie der Bildschirmhintergrund von Zeit zu Zeit ändert, ohne dass man sagen könnte, wieso. Jodi machen aus dem Computer wieder das unbekannte Wesen, dass er eigentlich immer war. Wer jemals geglaubt hat, dass er seinen Rechner unter Kontrolle hat und mit Mouse-Clicks bedient, wird hier eines besseres belehrt hat. Jodis "OSS" (ein Anagramm von "SOS", Save our Souls) demonstriert, dass es nicht die User sind, die den Computer benutzten, sondern umgekehrt der Computer seine Benutzer benutzt und dressiert. Wie der berühmte Science- Fiction-Computer "HAL" aus Stanley Kubricks Film "2001 - A Space Odyssee" entwickelt der mit Daten von Jodi infizierte PC ein böswilliges Eigenleben, und wirkt auf den befremdeten Nutzern plötzlich, als sei er ein Wesen mit einem eigenen und sehr unguten Willen. Jodi sind durch ihre Arbeit im WorldWideWeb bekannt geworden, bei der sie ebenfalls die technischen Parameter ihres Materials, des Internets, ausloteten. "Wir zeigen Screens, und Sachen, die auf diesen Screens passieren", sagt das Künstlerpaar über seine Arbeit. Auch in ihren Internetarbeiten benutzten sie als Material für ihre berühmt-berüchtigte Chaos-Site ausschließlich Icons und andere digitale Grafik aus dem Internet. Jodi reflektieren das Internet mit seinen eigenen Mitteln, was ihnen auch den Vorwurf der Selbst-Referentialität eingebracht hat. Tatsächlich schlagen Jodi - bei "OSS" genauso wie bei den Arbeiten auf ihrer Website - den Computer und das Netz mit seinen eigenen Waffen. Der Computer, eine Maschine, mit der Informationen verarbeitet werden sollen, und das Internet, dass eigentlich dazu entwickelt wurde, um mit dem Computer generierte Informationen zu verbreiten, werden von ihnen zu sinnlosen Datenakkumulationen, die auf dem Computermonitor vor sich hin flackern, degradiert. Die digitalen Maschinen, die eigentlich der Inbegriff kalter Rationalität und Produktivität sind, werden von ihnen zu nutzlosen, irrationalen Kisten gemacht. John Cage hat sich einen Computer gewünscht, der einem nicht dabei hilft, bei der Erledigung der eigenen Aufgaben Zeit zu sparen, sondern im Gegenteil dafür sorgt, dass diese Aufgaben noch mehr Zeit beansprucht. Jodi haben ihm gewissermaßen posthum diesen Wunsch erfüllt: sie machen aus dem Rechner eine Maschine zur sinnlosen, unproduktiven Zeitverschwendung. Daher ist es wahrscheinlich auch kein Wunder, dass sie ihre Aufmerksamkeit in der letzten Zeit verstärkt Computer-Spielen zugewandt haben. VII. Games Das Computergame "Wolfenstein" steht in Deutschland auf dem Index, weil die deutschen Soldaten, die in dem Spiel die Gegner sind, mit detailgenau gezeigten Nazi-Ornat, also "verfassungsfeindliche Symbole", gezeigt werden . Auch die Tatsache, dass es in dem Spiel darum geht, Nazis umzubringen, hat es ihm nicht erspart, hierzulande als Verharmlosung des Faschismus betrachtet zu werden. Jodis Version des Spiels dürfte derartige Kritik wohl kaum treffen: sie haben aus dem Game alles entfernt, was gegenständlich ist. Das Spiel, das gerade wegen seiner ausführlichen und detailfreudigen Darstellung von Mord und Totschlag beliebt war, ist nun zur einer mysteriösen Schwarzweiß-Landschaft geworden, bei dem man nur selten erkennen kann, was einen da gerade jagt oder den Weg versperrt: das Schloss mit den verschlungenen Gängen, durch die man den Weg zum Ausgang finden muss, sieht aus wie eine Galerie in der nur Kopien von Malewitschs "Schwarzem Quadrat" an der Wand hängen; die Nazis sind zu schwarze Dreiecke geworden, die man nur noch daran erkennt, dass sie gelegentlich "Achtung!" schreien. Auch einer Version des First-Person-Shooters-Spiels "Doom" haben sie jedes Leben ausgetrieben: bei "CTRL-SPACE" manövriert sich der Nutzer durch ein flackerndes Schwarzweiß-Interieur ohne erkennbare Ausstattung: "Es sieht aus wie ein Op-Art-Gemälde, in das man hineinsteigen kann", findet Dirk Paesmans von Jodi . Auf jeden Fall haben Jodi hier alles entfernt, was den speziellen Reiz des Spiels ausmacht: aus den genau gerenderten Spielorten und lebensechten Gegnern, bei denen das Blut in hoher Auflösung spritzt, wenn man sie trifft, ist ein trübes Niemandsland geworden, in dem es bisher auch noch keine Mitspieler gibt, obwohl "CTRL-SPACE" wie das Original-Spiel kann auch von mehreren Spielern in einem Netzwerk oder über das Internet gespielt werden - bloß, dass es bei dieser Version von "Doom" eigentlich nichts mehr zu spielen gibt, und aus einem Game, das seine Spieler normalerweise die Haare zu Berge stehen lässt, eine trübe Angelegenheit geworden ist. Computerspiele sind im vergangenen Jahr von verschiedener Seite aus zum Thema gemacht worden. Das amerikanische Internet-Magazin "Switch" widmeten dem Thema eine ganze Sondernummer , und auch eine Reihe von Ausstellungen beschäftigten sich mit dem Computerspielen, die schon lange zu einem Massenphänomen geworden sind und eine riesige Fan-Subkultur hervorgebracht haben. Während bei der Ausstellung "Game Over" in Zürich Computerspiele als kulturelles Phänomen im Mittelpunkt standen, zeigte "Synworld" bei der t0 Public Netbase in Wien und "Re- Load" beim Berliner Kunstverein "Shift e.V." Computergames von Künstlern, die zum Teil eigens für die Ausstellungen entstanden. So wie sich die Künstler-Games von den Originalen unterscheiden, so unterschied sich auch ihre "museale" Präsentation von den meisten Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst: bei "Shift" blieb die Ausstellung einmal in der Woche bis spät in die Nacht offen, um die Besucher zu stundenlangen "Deathmatches" über das interne Netzwerk einzuladen. Dass inzwischen eine ganze Reihe von Künstler eigene Versionen von bekannten Spielen entwickeln konnten, liegt nicht zuletzt daran, dass viele der bekanntesten Spiel eigene "Editoren" besitzen. Mit diesen Programmen können Fans eigene "Levels", also selbstgestaltete Ebenen für Games wie "Unreal", "Doom" oder "Quake", schaffen können. Während sich die meisten der sogenannten "Gamespatches" bemühen, den Realismus der Vorbilder zu imitieren, versuchen die Künstlerversionen freilich, sich von ihren Vorlagen so weit wie möglich zu entfernen und ihnen ihren "Naturalismus" auszutreiben. Das Wiener Künstlerpaar Max Moswitzer und Margarete Jahrmann haben eine Version des Spiels "Unreal" entwickelt, das vor einem komplett abstrakten Hintergrund stattfindet: "Linx3d" setzt sich aus dreidimensionalen Logfiles und anderem Zahlensalat zusammen, durch das sich der User manövrieren muss. Die Arbeiten, die beim "Shift e.V." in Berlin zu sehen war, dekonstruierten und verfremdeten sämtlich das Ballerspiel "Quake": in der Version von Christine Meierhof sieht das Spiel aus, als bestände aus zarten Kohlezeichnungen; das Künstlerduo "noroomgallery" (Florian Muser und Imre Osswald) verlegten den Ort das Gemetzels in die Hamburger Galerie für Gegenwart, wo die "Quake"-Monster zwischen Ölgemälden und Installationen aufeinander einschlagen und -schießen: "Dort, wo sonst schlimmstenfalls die Wortsalven des Museumspädagogischen Dienstes den Besucher am kontemplativen Kunstgenuss hindern, machen es ihm die Geschosse von heranstürmenden Playern herzlich schwer bis in die 3. Etage zu den deutschen Malern vorzudringen", heißt es sardonisch in der Ankündigung des Spiels auf der Website. Bei alle diese "Gamespatches" geht es letztlich um die kulturelle Aneignung von einem Computerphänomen, das immer weitere soziale Kreise zieht. Die Kuratorin Annemarie Schleiner schreibt in einem Essay in "Switch": "The parasitic game patch is a means to infiltrate gaming culture and to contribute to the formation of new configurations of game characters, game space and gameplay. Like the sampling rap MC, game hacker artists operate as culture hackers who manipulate existing techno- semiotic structures towards different ends." Die Computerspiele von Künstlern sind daher vor allem eine Methode, um ins Innerste eines kulturellen Systems vorzudringen, und dieses gegen seine Intention und gegen die ihm eingeschriebene Nutzungslogik zu wenden. VIII. Browser Eine andere Art vom zielgerichteten Missbrauch existierender Technologie sind die zahlreichen Browser von Künstlern, die in den letzten beiden Jahren in so großer Zahl entstanden sind, dass man - wie bei den "Gamespatches" - fast schon von einem eigenen Subgenre der gegenwärtigen Computerkunst sprechen kann. Das bekannteste derartige Projekt ist zweifelsohne der "Web Stalker", der Londoner Künstlergruppe I/O/D , der im Mai 2000 den "WebbyAward", eine Art Internet-Oscar, in der Kategorie "Internetkunst" gewonnen hat. Mit dem Programm kann man durch das Internet "surfen", wie mit dem "Netscape Navigator" oder dem "Microsoft Explorer", doch im Gegensatz zu diesen kommerziellen Programmen zeigt der "Web Stalker" genau das, was "normale" Browser gerade zu verbergen versuchen. Statt schön gestalteter Websites, sieht man mit dem "Web Stalker", was unter dieser Oberfläche liegt: den Code, in dem die Seiten geschrieben wurden und die Struktur der Websites, die in komplexen Diagrammen auf dem Bildschirm erscheinen. Matthew Fuller von I/O/D hat das Programm mit Gordon Matta- Clarks Dekonstruktion von leerstehenden Häusern in den 70er Jahren verglichen. Mich erinnert "Web Stalker" eher an die gelochte Postkarte von Yoko Ono, die bis vor einigen Jahren unter dem Titel "A hole to see the sky through" in der Edition Staeck erhältlich war. So wie Onos Karte zu einem neuen, frischen Blick auf dem Himmel, den man täglich sieht, ohne ihn wahrzunehmen, einlädt, so erlaubt auch der "Web Stalker" eine Perspektive auf das WorldWideWeb, der sich von den Oberflächenphänomen frei macht und ihn als das erscheinen lässt, was es ist: eine Ansammlung von digitalen Daten auf Servercomputern, die durchaus ihre eigene, wenn auch nur selten gesehene Schönheit haben. Doch für I/O/D ist der "Web Stalker" nicht nur ein Werkzeug, das einen "formalistischeres" Umgang mit dem Computer möglich macht, sondern auch ein sozio-politisches Statement: "If we are locked in with the military and with Disney, they are locked in not just with ur, but with every other stray will to power... We believe that the computer, like everything else, is composed in conflict. Somewhere between the construction of the data-mines and the desire for the abolition of work which is embedded in the machines is where we are now - but these are not the only possibilities. Geometry is not just the discipline of quantification, but also the art of tricking new spaces into being." Die Auseinandersetzung mit und die Kritik an der Metaphorik, die sich um das WorldWideWeb gebildet hat, steht auch bei den anderen Browser-Projekten im Mittelpunkt. Nach herrschender Terminologie "surfen" wir im "Web", das - durch die gängigen Programme betrachtet - als aus einer Ansammlung von "Seiten" ("Homepages") besteht, die auf "Sites", also an scheinbar physischen Orten gespeichert, liegen soll. Durch die muss man "navigieren" oder "manövrieren", und zwar mit Software, die so bezeichnende Namen wie "Explorer" (Entdecker) und "Navigator" (Steuermann) hat. Diese fast kolonialistisch anmutenden Metaphern sind freilich nur eine Art Blümchentapete, die überdecken, was wir tatsächlich tun, wenn wir das Web benutzten: wir laden Daten von einem Computer in den Arbeitsspeicher unseres eigenen Computers. Kunstbrowser wie "reconnoitre" von Tom Corby and Gavin Baily wollen der gängigen Netzmetaphorik widersprechen: das Programm will nicht Webseiten zeigen, sondern das "Surfen" als Aktivität sichtbar machen. Der "Browser", den die beiden Künstler selbst ironisch als "disfunktional" beschreiben, zeigt nur einzelne, zufällig auf Websites zusammengesuchte Stichworte, die - weiß auf schwarzem Hintergrund - durch einen scheinbar dreidimensionalen Raum schweben, sich drehen und wenden, und gemeinsam eine automatisch generierte Textcollage ergeben. Einmal gestartet bewegt sich das Programm selbständig durchs Internet, dem "User" bleibt nichts weiter übrig, als passiv zuzusehen, was sich auf dem Bildschirm entwickelt - für die Künstler ein technologisch erfahrener "Derive", "ein beiläufiges Schweifen durch den Text, das fragmentarisch, unvollständig und von fröhlicher Zwecklosigkeit ist." Auch beim "netomat" des New Yorker Künstlerprogrammierer Maciej Wisniewski ist kein Klicken notwendig: das Programm benötigt lediglich ein Stichwort, um aus dem Internet Textzeilen und Bilder zusammenzusuchen, die auf dem Bildschirm zu einer arbiträren Collage zusammengefügt werden. Wisniewski bietet das Programm als "Open Source Software" an, und hofft, dass bald andere Programmierer "netomat" modifizieren und weiterentwickeln; demnächst soll das Programm auch Sounds aus dem Netz wiedergeben können. Mit Sound arbeitet auch die Netzkünstlerin Netochka Nezvanova, die unter dem Pseudonym "antiorp" im Internet operiert. Ihr Netzbrowser "Nebula.m81" kann digitale Daten, die er aus dem Internet fischt, als Klänge abspielen - auch wenn es sich dabei, um Bilder oder Texte handelt. Für "nebula.m81" ist das Netz eine "riesiges Musikinstrument". Um dessen "unerträgliches Schweigen" zu beenden, macht das Programm aus Daten Töne, und plötzlich "schwingen die Netzprotokolle wie die Seiten eines Violoncellos". Die Beispiele, die auf der Website von Nezvanova zu hören sind, klingen freilich eher wie Störungen auf Kurzwelle. Das Programm will sich die Künstlerin patentieren lassen, und stellt es daher nicht im Internet zum Download zur Verfügung, ein persönlicher Eindruck von den Synästhesien, die das Programm erzeugt, ist daher vorerst nicht möglich. IX. Sets of instructions II "The idea becomes the machine that makes the art", hat Sol LeWitt 1967 in einem berühmt gewordenen Manifest der Konzeptkunst dekretiert. In den Computerprogrammen von Künstlern der Gegenwart ist diese Vorstellung zu einem radikaleren Ende getrieben worden, als die Generation der frühen conceptual artists mit ihren Handlungsanweisungen und ihren Konzepten (die im Fall von LeWitt längst wieder zu dekorativen Wandmalereien geworden sind) es je zu träumen gewagt hätten. Die Software- Projekte der letzten Jahre führen - im Wortsinn - Dinge aus, die Künstler vor mehr als zwanzig Jahren mit der Schreibmaschine niedergeschrieben hätten - hätten sie denn gewusst, was ein Pentium-III-PC im Jahr 2000 ausrechnen kann. Doch diesem Essay geht es nicht darum, die Conceptual Art der Sixties zu diskreditieren oder gegen die experimentelle Software der Gegenwart auszuspielen. Es soll auch nicht die Software von Künstlern der Gegenwart - die von traditionellen Kunstbetrieb der Gegenwart hartnäckig ignoriert werden - nachträglich als High Art nobilitieren werden. Die Programmen, die in diesem Essay vorgestellt werden soll, könnten zwar durchaus als quasi naturwüchsige "letzte Konsequenz" bestimmter Tendenzen in der Kunst der Moderne betrachtet werden. Aber sie erschöpfen sich darin nicht. Interessanter ist es, sich diese Software nicht nur als Kunst (und auch nicht als "Anti-Kunst") anzusehen, sondern als "Nicht-nur-Kunst", wie es Matthew Fuller von I/O/D nahegelegt hat . Der Vergleich zwischen der historischen Konzeptkunst aus den späten 60er und frühen 70er Jahren und der Computer-basierten Kunst der Gegenwart offenbart vielmehr ein interessantes Konfliktfeld zwischen der avanciertesten Kunstpraktik der 60er Jahre, der Zeit, in der sich die sogenannte "Informationsgesellschaft" formierte, und den avanciertesten Kunstpraktiken der Gegenwart, in der diese Informationsgesellschaft zur täglichen - und keineswegs überwiegend erfreulichen - Realität einer Mehrheit der Menschen in der sogenannten "Ersten" Welt geworden ist. Die Software von Künstlern, die in diesem Essay beschrieben wird, sind potentiell für jeden erhältlich und benutzbar: sie können umsonst aus dem Internet auf den privaten Computer heruntergeladen werden. Wenn man Kunstterminologie benutzt, sind diese Software-Kunstwerke Multiples in unbegrenzter Auflage; wenn man Computerterminologie benutzt, sind sie Freeware, Gratis-Software von fanatischen Programmierern; wenn man realistisch ist, sind sie schneller vergessen, als sie programmiert wurden (also in zwei, drei Jahren), weil sie für Betriebssysteme geschrieben wurden, die schon bald wieder obsolet sein werden. Sie sind entstanden aus dem Umfeld der Netzkunst, aber fast alle laufen auf dem eigenen PC; sie brauchen das Internet meist nicht als Bedingung, sondern nur als Möglichkeit (obwohl die meisten der Künstler, die sie geschrieben haben, auch im Internet aktiv sind). Viele dieser Software-Projekte sind in gewisser Hinsicht Fortsetzungen der Arbeiten, die in den 60er und 70er Jahren unter dem Label "Computerkunst" entstanden sind. Die Computerkunst, wie auch die mit Computern generierten Texte und Kompositionen aus dieser Zeit, sind ungeliebte Kinder der künstlerischen Gattungen geblieben, denen sie sich zugehörig fühlten. Sie wurden von den Geisteswissenschaften kaum berücksichtigt, geschweige denn in den Kanon der Literatur, der Kunstgeschichte oder der Musikwissenschaft übernommen worden. Anhand Arbeiten, die als damals als Computerkunst firmierten, ist aus heutiger Perspektive auch leicht zu klären, warum sich die Kunstwelt von diesen Arbeiten kaum angezogen fühlte. Die abstrakten Figuren und Formen, die Künstlern wie Herbert W. Franke, Frieder Nake, Kenneth Knowlton, Georg Nees oder Michael Noll mit Hilfe der damaligen Mainframe-Computern schufen waren mit ihren geometrischen Formen, ihren Linien, Rechtecken und Kreisen, leicht als ein aufgewärmter, ästhetisch antiquierter Konstruktivismus abzutun. Aus heutiger Sicht erscheinen freilich viele der Werke der Computerkunst in ihrer Methode als Konzeptkunst. Der Künstler Herbert W. Franke, der mit einer ganzen Reihe von Büchern als Propagandist der Computerkunst aufgetreten ist, betonte in seinem Buch "Leonardo 2000", dass die Computerkünstler die "Idee über die Realisation" stellten und wies auch selbst auf die Parallele zur Konzeptkunst hin . Tatsächlich waren die meisten Arbeiten aus dem Genre der Computerkunst jedoch Drucke, die mit Plottern und Nadeldruckern auf Papier ausgegeben wurden. Diese Bilder waren zwar das Produkt von - oft von den Künstlern selbst oder in ihrem Auftrag geschriebenen - Programmen. Doch obwohl sie das Resultat des Ablaufs von Computerroutinen waren, war das Kunstwerk, das gezeigt wurde, ein relativ traditionell wirkendes Bild, aber nicht das Programm, das diese Werke hervorgebracht hatte. Doch auch wenn die "klassische" Computerkunst einem traditionellem Kunstverständnis durch ihre Praxis entgegenarbeitete, lehnte sie dieses in ihrer Theorie ab und verstand sich eigentlich als Kritik am "Originalkünstlertums" und am existierenden Kunstsystems. 1973 schrieb Franke: "In der apparativen Kunst verschwindet die Kunst des Originals; zum Teil gibt es dieses überhaupt nicht mehr; an seine Stelle tritt das Programm. Es entspricht den Noten in der Musik, der Partitur, die das betreffende Musikstück in einer codierten Form enthält - und damit den gesamten immateriellen Wert. Nur in der bildenden Kunst mit ihrem Mangel an Reproduktionsmöglichkeiten konnte es zur Überbewertung des Realisats kommen, was zu einigen kuriosen Entwicklungen geführt hat. Eine davon ist die Kommerzialisierung des Kunsthandels, die Spekulation mit Werken der bildenden Kunst, die Herausbildung von Stars, die hohe Preise auf dem Kunstmarkt erzielen und deren Arbeiten wie Aktien gehandelt werden. Das sind entscheidende Hemmnisse vor einer Demokratisierung - sie schließen auch die Beteiligung breiter Kreise von vornherein aus. Somit weist die apparative Kunst auch ein soziales Potential auf, das die Möglichkeit in sich trägt, die Situation der Kunst im visuellen Sektor in wünschenswerter Weise zu verändern." Der hier formulierte Anspruch war freilich durch die Praxis der meisten Computerkünstler nicht gedeckt: sie produzierten traditionell wirkende Kunstwerke, Drucke auf Papier. Die Programme, deren Resultat diese Arbeiten waren, wurde nicht in den Vordergrund gestellt. Darin unterscheidet sich die "klassische" Computerkunst von den Arbeiten, die in den letzten Jahren als "Stand-alone-Application", also als autonomes Programm für den PC, entstanden sind. Während die Arbeiten der Computerkünstler, die Franke in seinen Büchern zu kanonisieren versuchte, dem "endgültigen" Produkt den Vorrang geben, geht es bei der Künstler-Software der letzten Jahre ausschließlich um den Prozess, der durch den Einsatz dieser Programme ausgelöst wird. Während die Computerkunst der 60er und 70er Jahre die Vorgänge im Computer nur als Methode, nicht als eigenes Werk betrachtete, den Rechner als eine Art "Black Box" behandelten, und die Vorgänge in seinem Inneren verschleierte, wollen die Software-Projekte der Gegenwart genau diese Vorgänge thematisieren, sie transparent machen und zur Diskussion stellen. Das ist freilich die Kritik eines Nachgeborenen. Zu der Hochzeit der "klassischen" Computerkunst waren Computer rare Maschinen, die fast ausschließlich an Universitäten und in Firmen und so gut wie gar nicht im Besitz von Privatpersonen zu finden waren. Computerprogramme selbst als Kunstwerke zu produzieren und zu vertreiben war schon deshalb ein Unding, weil sie fast niemand hätte benutzten können. Erste heute ist durch die massive Verbreitung von Personal Computern ist die Idee, ein Computerprogramm als Kunstwerk aufzufassen und an andere User weiterzugeben, sinnvoll geworden. Die Programme von Künstlern, die in diesem Text vorgestellt wurden, sind aber auch der Versuch, sich den Computer wieder als ein Stück Kulturgut anzueignen, und seine Oberfläche und seine Festplatte nicht der Software von einigen wenigen US-Konzernen überlassen, deren Vormachtstellung weniger auf der Qualität ihrer Programme, sondern vor allem auf ihrer Marktmacht beruht. Diese Arbeiten erobern den Desktop des Computers zurück für kulturelle und künstlerische Aktivitäten, die nicht von den Produkten eines bestimmten Großunternehmens abhängig sind. Sie hinterfragen die Dominanz der "benutzerfreundlichen" Programme von Konzernen wie Microsoft und Apple, denn sie zeigen den Computer als die vertrackte Maschine, die er tatsächlich ist, und nicht als heitere Point-and-Klick-Apparatur, als den ihn uns Programme mit Graphical User Interface (GUI) präsentieren. Das Graphical User Interface hat seit Anfang der 80er Jahre den Computer von Geräte für eine kleine Kaste von Freaks zu einer Maschine für den Hausgebrauch werden lassen, das grafisch navigierbare WorldWideWeb hat das Internet vomPrivileg einer kleinen Gruppe von Akademikern und Programmierern zum Massenmedium gemacht. Das sind ohne Zweifel emanzipatorische Errungenschaften. Doch die leichtere Bedienbarkeit von Rechner und Netz, die diese grafischen Oberflächen bedeuten, sind durch eine Reduktion von Komplexität erkauft worden. Die Software- Projekte, die dieser Artikel beschreibt, machen den Computer als hochkomplexe Maschine wieder sichtbar. X. Some more beginnings… Vor fast genau 30 Jahren fanden in New York zwei der wichtigsten Ausstellungen der conceptual art und der sich formierenden Medienkunst statt: "Information" (Museum of Modern Art, New York, 1970) und "Software" (Jewish Museum, New York, 1971) . Die Kunst-Software handelt genau davon, was die Ausstellungstitel versprachen und die dazugehörigen Shows nur zum Teil hielten. Sie sind Software, und sie verarbeiten Information. In diesem Sinne haben sie uneingelöste Versprechen der Konzeptkunst realisiert. Die conceptual art der 60er Jahre, die bei diesen Ausstellungen gezeigt wurde, kann heute auch als kulturelle Begleitmusik der Umwandlung der westlichen Welt vom klassischen Kapitalismus, bei dem die Erwirtschaftung eines Mehrwerts durch den Verkauf von materiellen Gütern entstand, zu einer informationsbasierten Ökonomie, in der Mehrwert aus der Weitergabe von Informationen entsteht, verstanden werden. Die frühen Werke der Konzeptkunst bestanden nicht zu letzt deswegen ausschließlich aus Information, weil sie sich der Produktion von warenförmigen Kunstprodukte, die verkaufbar waren, entziehen wollten. Dass das ein vergebliches - und irgendwie auch anachronistisches - Unterfangen war, zeigt nicht nur die Tatsache, dass die Werke der Konzeptkunst sehr wohl wieder zu Produkten geworden sind, mit denen gehandelt und spekuliert werden kann. Dazu haben nicht nur die Künstler selbst beigetragen, die in ihrer Produktion bald dem Kunstmarkt entgegengekommen sind. Dazu dass Kunst, die aus Informationen besteht, doch wieder eine verkäuflichen Waren sein kann, hat auch die Entwicklung des westlichen Kapitalismus der Moderne zu einer postmodernen "Informationsgesellschaft" beigetragen. Wie sich die Software-Kunst in diesem Kontext positionieren wird, bleibt abzuwarten. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass aus den Computerprogrammen von Künstlern ein kunstmarktkompatibles Geschäftsmodell erwachsen könnte, auch wenn einige der Software-Künstler versucht haben, ihre Arbeiten zu verkaufen. Die meisten der Programme sind jedoch "Freeware", also Gratis-Software, und werden es wohl auch bleiben. Ihr "Mehrwert" könnte allenfalls in gesteigerter Wahrnehmung der Künstler, die sie geschaffen haben, bestehen. Doch im Gegensatz zur Konzeptkunst, die schon früh von einflussreichen Galeristen getragen und promotet wurde, ist die Software-Kunst der Gegenwart zum größten Teil eine private Aktivität, die jenseits des Kunstmarkts stattfindet und höchstens von staatlichen Institutionen durch Stipendien oder durch die Einladung zu Medienkunst-Festivals unterstützt wird. Das hat zweifellos zu der Qualität der Arbeiten beigetragen, die so einen großen Freiraum für Experimenten boten, weil sie sich nicht nach den Interessen von Galeristen und Sammlern richten mussten. Wie sich die traditionelle Kunstwelt zu diesem Arbeiten verhält ist allerdings unklar, denn bis jetzt hat sie diese nicht zur Kenntnis genommen. Doch auch wenn die Programmierarbeiten der Gegenwart in gewisser Weise wie Fortsetzungen der Konzeptkunst mit neuen Mitteln wirken, müssen sie keineswegs ausschliesslich als Kunst betrachtet werden. Sie sind "experimentelle Software", die für jeden interessant ist, der einen anderen Blick auf seinen Computer werfen will. Dass es einen Bedarf danach gibt, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Programm wie der "Web Stalker" zusammen mit anderen Freeware-Programmen auf verschiedenen CD-Rom-Beilagen von Computerzeitschriften in Großbritannien und Deutschland verbreitet wurde . Software- Arbeiten von Künstlern können als Kunst betrachtet werden, aber man kann sie auch goutieren, ohne auch nur zu wissen, dass sie Kunst sein sollen. Man muss nicht gleich davon träumen, "daß Macintosh-Interface abzureissen und niederzubrennen", wie es I/O/D in einem Interview vorschlagen. Aber Programme wie ihr "Web Stalker" erinnern daran, dass das Bedienen von Microsoft Windows nicht die einzige Methode ist, mit einem Computer zu interagieren; sie machen den Computer wieder ein bisschen unzugänglicher und ein bisschen seltsamer als er uns heute gerne erscheinen will. Und das kann ihm nur gut tun. ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org