________________________________________________________________________________ Die Zeit 21/2000 Data Morgana In der Berliner Ausstellung "Sieben Hügel" zeigt sich das vormoderne Weltbild der neuen Wissensgesellschaft von Gustav Seibt Zuerst die gute Nachricht: Das Leib-Seele-Problem ist praktisch gelöst. "Der Kopf ist in der Welt, und die Welt ist im Kopf. Wie dies zusammenhängen soll, war stets ein Thema der Philosophie. Im 21. Jahrhundert aber wird es zu einer Zukunftsfrage der Menschheit, der sich weltweit Forschergruppen widmen. Schon 1989 rief der US-Congress ein Jahrzehnt der Hirnforschung aus - eine Decade of the Brain. Von neuen Visualisierungstechniken erhofft man sich im wahrsten Sinne des Wortes bessere Einblicke ins Denken. Seitdem erscheinen graue Zellen äußerst farbenfroh auf den Computermonitoren." Wie schön. Man möchte ein Smiley aus der Netzsprache neben diese Sätze setzen [:-)] und hinzufügen: Gewiss wird der amerikanische Kongress demnächst auch die Teilchenphysik beauftragen, das "Ding an sich" zugänglich zu machen, und die Marktforschung, endlich das Problem der Willensfreiheit aus der Welt zu schaffen. Die schlechte Nachricht: Die Sätze über die farbenfrohen grauen Zellen sind ernst gemeint. Sie stehen neben unzähligen anderen Kalenderweisheiten im gedruckten Begleitmaterial der Ausstellung Sieben Hügel, der aufwändigsten Kultur- und Wissenschaftsschau, die es in Berlin seit Menschengedenken gegeben hat. Wir lesen da: "Ohne Wasser gäbe es keine Zivilisation. Dennoch ist Wasser eine sehr knappe Ressource, um die in Zukunft heftig gekämpft werden wird." Oder: "Technischem Fortschritt und wissenschaftlicher Aufklärung zum Trotz erfahren die Menschen der Gegenwart dieselben Ängste wie ihre Vorfahren früherer Zeiten." Man könnte Dutzende von Seiten mit solchen Mitteilungen füllen. Nur noch einer dieser Sätze, diesmal aus dem wissenschaftlichen Katalog, damit es nicht heißt, hier werde nur Pressematerial ausgeschlachtet: "Die Neugier, Fragen nach dem großen Ganzen zu stellen, die über den irdischen Horizont hinausragen, hat den Menschen stets umgetrieben." Um solche Erkenntnisse zu illustrieren, haben die Berliner Festspiele ganze Forschergruppen mehrere Jahre arbeiten lassen, 2000 Objekte aus aller Welt und allen Zeiten zusammengetragen, interaktiv bedienbare Maschinen aufgebaut, berühmte und teure Gestalter angeheuert, die das enorme Material mit Computeranimationen, Videoinstallationen, Projektionen, Soundtracks einwickelten. Der Gropius-Bau summt, brummt und glüht wie ein Hauptbahnhof, nur lauter und bunter, weil die interaktiven Apparate mehr hergeben als die Fahrkartenautomaten der Bahn. Den synkretistischen, alle Zeiten, Zonen und Themen verrührenden Charakter signalisiert bereits der Titel, dessen Siebenzahl ans weltbeherrschende Rom erinnert, an die sieben Fächer des mittelalterlichen Grundwissens und die sieben antiken Weltwunder (von weiteren Assoziationen abgesehen). Die Sieben Hügel tragen die Namen Kern, Weltraum, Dschungel, Zivilisation, Wissen, Glauben und Träumen. Es geht um das Kleinste (die subatomare Physik) und das Größte (das All), um Natur und Geschichte, um die festen und luftigen Anteile unseres Bewusstseins, um Gehirn, Weltbilder, Religionen, Traum. Nur die Kunst hat keine eigene Stelle, aber von Kunst durchtränkt ist die ganze Ausstellung, deren Zentralhalle zum Beispiel von dem Filmarchitekten Ken Adam gestaltet wurde, dem man eindrucksvolle Kulissen in James-Bond- Filmen verdankt. Der hohe Rang, der in dieser Schau der Gestaltung zugebilligt wurde, führt unmittelbar in den Kern ihrer intellektuellen Fragwürdigkeit. In den Sieben Hügeln kulminiert der Trend zum Ausstellungsregietheater. Kuratoren und Ausstellungsmacher bringen nicht mehr Objekte zur Geltung, sondern bedienen sich ihrer, um Thesen zu bebildern. Das geschieht im harmloseren Fall durch überraschende Kontextualisierung: wenn Beispiele heterogener Stilrichtungen, etwa abstrakter und gegenständlicher Malerei, nebeneinander gehängt oder verschiedene Genres wie Zeichnung, Malerei, Film aufeinander bezogen werden. Bis zu einem gewissen Grad hat es das immer gegeben, oft unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten. Inzwischen aber geht es um viel mehr. Etwa darum, mentalitätsgeschichtliche Längsschnitte sichtbar zu machen (wie kürzlich in der Berliner Jahrhundertausstellung den Zusammenhang von Kunst und Gewalt in der deutschen Tradition) oder anthropologische Grundformen des Ästhetischen, wie in der Konfrontation von moderner Kunst mit der Kunst der Naturvölker. Im Einzelfall kann dies sehr fruchtbar sein, wenn es zu einem neuen Sehen führt, zu einem intensiveren Blick auch auf das einzelne Werk und Objekt, nicht nur auf die behaupteten Zusammenhänge, also die "These" einer Ausstellung. Und natürlich hat es in den letzten Jahrzehnten viele überaus gelungene Beispiele von Epochenpanoramen gegeben, in denen die großen Kunstwerke in jener Balance von ästhetischer Autonomie und historischer Zeitabhängigkeit erschienen, die ihnen eigen ist. Die Sieben Hügel funktionieren auf verstörende Weise anders. Sie tragen einen unklaren, aber aufdringlichen weltanschaulichen Zug, der die vielen wertvollen Einzelstücke gleichgültig werden lässt - man hätte sie auch auf Bildschirmen zeigen können. Das beginnt und endet damit, dass über kaum eines ihrer Objekte eine Information zu gewinnen ist, die auch nur die elementare Neugier befriedigen könnte. Die Abteilung Wissen zeigt ein Beispiel indianischer Knotenschrift aus vorkolumbianischer Zeit. Ist die Schrift entziffert? Was enthält das ausgestellte Beispiel? Wir erfahren es nicht. Eine chinesische Enzyklopädie wurde herangeschafft. Was ist ihr Ordnungsprinzip - alphabetisch kann es nicht sein, aber welches ist es nun? Zu wertvollen mittelalterlichen Plinius-Handschriften erfahren wir, Plinius habe die für Antike und Mittelalter maßgebliche Naturbeschreibung abgefasst; viele werden das schon vorher gewusst haben. Aber die es nicht wissen, können daraus auch nichts erfahren über die enorme Wirkung dieses Autors, seine Methode und seinen Stil. Sieben Katalogbände begleiten die Sieben Hügel. Doch ihr Inhalt besteht aus Essays allgemeiner Natur - manche gute, aber genauso viele dilettantische, anmaßende, pseudophilosophische. Das Layout gleicht den Prospekten für Flughäfen oder Investmentfonds: Glanzpapier, "kreativ" zusammengeschnipselte Bildchen, viel Weißraum. Einzelne Objekte werden nicht erläutert, der Besucher ist auf die kümmerlichen Beschriftungen in der Ausstellung angewiesen. Dort wird er mit Kalauern bombardiert, wie "Wal-Verwandtschaften" oder "Data Morgana". Vages Assoziieren und technischer Spieltrieb müssen eine vernünftige Unterrichtung ersetzen. Unentwegt darf der Besucher Knöpfe drücken und zwischen Computerseiten wählen. Er darf elektronische Metallhündchen beim Spielen bewundern und einem Roboter in Menschengröße, der wie eine Playmobilfigur aussieht, dabei zusehen, wie er Treppen steigt und der Frau des Regierenden Bürgermeisters einen Blumenstrauß überreicht. Dazu erhebt sich dunkel drohend die Frage, ob bald die Maschine den Menschen ersetzen werde. An anderer Stelle kann der Besucher in einer "Mind-Reading-Maschine" einen Text lesen; Wörter, auf denen sein Auge länger verweilt, werden im Internet aufgesucht. Abgrund! Wir beobachteten einen Menschen, der dabei auf der Seite von Schlingensiefs Chance 2000 landete. Wo nichts erläutert wird, blüht die Allegorie, die zum Bühnenbild gewordene Metapher. Die Räume des Hügels Zivilisation sind von schwarzem Eisengestänge durchzogen. Da soll man dann an Max Webers "stahlhartes Gehäuse" denken oder an den Dschungel der Zivilisation. Wenn man stolpert, ist es Absicht, denn der Boden der Zivilisation ist oft schief und stufenreich. Dafür ist der Boden der Abteilung Dschungel weich wie tiefes Moos. Bei der Religion hängen Bilder von Christi Geburt und Buddhas erster Predigt neben der Anzeigetafel eines Flughafens: Zeitrechnung! In der Kern-Abteilung flimmern elektronische Visualisierungen von Gehirnströmen, daneben dämmert der Schädel von Descartes: Man kann dessen "Cogito, ergo sum" fast in die Hand nehmen. Die Botschaft, die sich aus alldem zusammenassoziieren lässt, ist schwammig, aber sie zeigt doch in eine bestimmte Richtung. Sie führt auf einen neuen naturalistischen Monismus, dessen Leitwissenschaft nicht mehr die Evolutionsbiologie ist wie in den 1899 erschienenen Welträtseln des weißbärtigen Ernst Haeckel, sondern die Informatik. Der Monismus der letzten Jahrhundertwende reihte alle Natur- und Geschichtsphänomene in die Fluchtlinie einer Höherentwicklung vom Elementaren zum Komplexen, die den darwinistischen Gesetzen folgte. Der heutige Monismus zerlegt alles in mathematisch formulierbare Elementarkräfte: Der genetische Code gleicht danach der 0-1- Verschlüsselung der Computerfiles, die sich elektronisch übersetzen lassen, das Gehirn wirkt wie eine Art Computer mit Hardware und Software, die Kommunikation ist eine Art Internet, und das Ganze beruht auf den widerstreitenden Energien im Atomkern. Gehirn, Genom und Computer scheinen eine gemeinsame Wurzel zu haben und wirken wie evolutionäre, wenn auch vielleicht chaostheoretische Ausformungen der immer gleichen Gesetze. Diese Welt ist materiell und geistig zugleich, nämlich elektronisch- atomar und mathematisch. So wirkt der Sprung zwischen Leib und Seele, Wesen und Erscheinung, Zeichen und Bedeutung, Aufschreibesystemen und Kultur, Information und Wissen, Gehirn und Gedanken, Natur und Zivilisation, am Ende sogar zwischen Weltall und Gott unbedeutend. Forschergruppen basteln lustig an Computern, Klonen und philosophischen Rätseln zugleich. Das sagen die Sieben Hügel so nicht, aber sie legen es im Einklang mit einem neuen Zeitgeist nahe. Die Methode dieses Denkens ist eine mythische, die Analogiebildung, das stufenlose Glissando zwischen Phänomenen und Gedanken. Wissenschaftlich ist dieses Analogisieren ungefähr so viel wert wie vormoderne Gesellschaftsvorstellungen, die behaupteten, das Volk sei der gefräßige Bauch, der Staat die starke Hand und die Regierung der kluge Kopf eines Sozialkörpers. Was soll daraus werden? Aus dem Darwinismus der letzten Jahrhundertwende wurde der Weltkampf der Menschenrassen, die naturalisierte Politik. Der heutige Monismus kommt erst einmal als Weltanschauung der Wissensgesellschaft daher, als Ideologie des digitalen Kapitalismus, der sich darauf vorbereitet, die ganze Natur zu patentieren. In Berlin hat diese Ideologie und der merkwürdig psychedelische Zukunftsglamour, den sie verbreitet, jetzt 28 Millionen Mark verschlungen, das sind drei Jahresetats für Anschaffungen der notleidenden und technisch zurückgebliebenen Staatsbibliothek. In der Wissensgesellschaft zu Berlin muss man mit 14 verschiedenen Katalogen kämpfen, die nicht einmal durchweg online benutzbar sind. Dafür hat man ein paar Monate lang die Sieben Hügel. Hier sind zwar die grauen Zellen farbenfroh, aber die Gedanken grau wie in jedem Synkretismus, der alle Farben vermischt. Bis zum 29. Oktober im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Der siebenbändige Katalog kostet im Paket an der Kasse 60,- Mark http://www.zeit.de/2000/21/200021_7huegel.html ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org