________________________________________________________________________________ Die ganze Welt ist aus den Fugen "Empire" – Haben Michael Hardt und Antonio Negri das Kommunistische Manifest fürs 21. Jahrhundert verfasst? Von Slavoj Zizek Heute, mitten in einer mühsamen Revolution der Produktionskräfte, ist man versucht, die alte, schmachvolle und halb vergessene marxistische Dialektik von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen wieder zu beleben: Wie beeinflussen die Digitalisierung und die Globalisierung unseres Lebens nicht nur die Produktionsbedingungen im engen Sinne, sondern unser soziales Dasein, unsere Praxis und (ideologische) Erfahrung der sozialen Interaktion? Marx stellte gern revolutionäre Veränderungen der Produktionsprozesse einer politischen Revolution gegenüber. Sein Leitmotiv war, dass die Dampfmaschine und andere technische Neuerungen des 18. Jahrhunderts wesentlich mehr zur Revolution des sozialen Lebens beigetragen haben als die spektakulären politischen Ereignisse. Ist diese Leitidee heute nicht mehr relevanter denn je – da die unvorstellbaren Veränderungen der Produktion von einer Art Lethargie im politischen Bereich begleitet werden. Während wir uns mitten in einer radikalen Verwandlung der Gesellschaft befinden, deren letzte Konsequenzen wir nicht klar erkennen können, verzweifeln viele radikale Denker an der Möglichkeit eines angemessenen politischen Handelns. Außerdem bilden die Begriffe, die wir zur Beschreibung der neuen Konstellatioen von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen verwenden (postindustrielle Gesellschaft, Informationsgesellschaft), noch keine echten Konzepte. Sie bleiben theoretische Notlösungen: Statt uns zu befähigen, die historische Realität, die sie bezeichnen, wirklich zu reflektieren, entlassen sie uns aus der Pflicht zu denken oder halten uns sogar davon ab zu denken. Die Standard-Antwort der postmodernen Trendsetter von Alvin Toffler bis Jean Baudrillard lautet: Wir können dieses Neue nicht denken, weil wir im alten industriellen "Paradigma" fest stecken. Genau das Gegenteil ist richtig, möchte man gegen diesen Gemeinplatz behaupten: Sollten nicht all diese Versuche, die materielle Produktion zu überwinden oder aus der Vorstellung zu tilgen, indem man die momentane Umwandlung bestimmt als den Übergang von der Produktion zur Information, letzten Endes die Schwierigkeit zu vermeiden, darüber nachzudenken, wie diese Verwandlung mit der Struktur der kollektiven Produktion selbst zusammenhängt? Anders gesagt, wäre die eigentliche Aufgabe nicht womöglich, sich das entstehende Neue gerade in den Begriffen der kollektiven materiellen Produktion vorzustellen? Genau dies versuchen nun Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem neuen Buch "Empire" (Harvard University Press, Cambridge), einem Buch, das sich selbst die Aufgabe stellt, das Kommunistische Manifest für das 21. Jahrhundert neu zu schreiben. Hardt und Negri beschreiben Globalisierung als mehrdeutige "Entterritorialisierung": Der siegreiche globale Kapitalismus drang in alle Poren des sozialen Lebens, bis in die intimsten Sphären, und installierte eine nie dagewesene Dynamik, die nicht länger auf patriarchalischen oder anderen hierarchischen Strukturen der Dominanz basiert, sondern fließende, hybride Identitäten hervorbringt. Diese fundamentale Zersetzung aller wesentlichen sozialen Bindungen lässt andererseits auch den Geist aus der Flasche: Sie setzt das Potential an Zentrifugalkräften frei, die das kapitalistische System nicht mehr voll zu halten vermag. Gerade wegen seines globalen Triumphes ist das kapitalistische System heute verwundbarer als je zuvor. Die alte Formel von Marx gilt noch immer: Der Kapitalismus bringt seine eigenen Totengräber hervor. Hardt und Negri beschreiben diesen Prozess als den Übergang von den Nationalstaaten zum globalen Empire, zum transnationalen Raum, der mit dem antiken Rom vergleichbar ist, wo hybride Mengen verstreuter Identitäten wuchsen. Die postmoderne Politik konzentriert sich auf "kulturelle Kriege" und kämpft um Anerkennung: Sie nimmt als Grundsätze die sexuelle, ethnische und religiöse Toleranz, predigt das multikulturelle Evangelium. Liest man diese Autoren, kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, wir würden Türken und andere Einwanderer deshalb ausbeuten, weil wir ihr "Anderssein" nicht tolerieren können. Kulturelle und sexuelle Intoleranz dient als Schlüssel für wirtschaftliche Spannungen, nicht andersherum, wie in den guten alten Zeiten des orthodoxen Marxismus. Somit verdienen Hardt und Negri großes Lob dafür, dass sie die widersprüchliche Natur des heutigen Turbo- Kapitalismus wieder ins Licht rücken und versuchen, die progressiven Kräfte gerade in seiner Dynamik zu identifizieren. Ihr heroischer Versuch stellt sich klar gegen die heutige Haltung der Standardlinken, die vorsichtig nach Wegen suchen, die destruktiven Kräfte der Globalisierung zu begrenzen und zu retten, was zu retten ist vom alten Wohlfahrtsstaat. Diese Haltung ist durchdrungen von einem zutiefst konservativen Misstrauen der Dynamik der Globalisierung und Digitalisierung gegenüber, ganz im Gegensatz zum marxistischen Vertrauen in die progressiven Kräfte des Fortschrittsn. Dennoch bekommt man bereits auf der Ebene des Stils einen Vorgeschmack der Grenzen von Hardt/Negris Analyse. In ihrer sozioökonomischen Analyse fehlen einfach die konkreten, präzisen Einsichten, was durch einen Deleuzeanischen Jargon der Vielheiten, Deterritorialisierungen etcetera kaschiert wird. Kein Wunder also, dass die drei "praktischen" Vorschläge, mit denen das Buch endet, wie eine Antiklimax wirken. Die Autoren propagieren den politischen Kampf um drei globale Rechte: Das Recht auf globale Bürgerschaft, das Recht auf soziales Einkommen, die Wiederaneigung der neuen "Produktionsmittel" (den Zugang zu und die Kontrolle über Bildung, Information, Kommunikation). Es ist paradox, wie hier Hardt und Negri, die Poeten der Mobilität, Vielfalt, Hybridität etc. mit drei Forderungen kommen, die in der herrschenden Terminologie der universalen "Menschenrechte" formuliert sind. Das Problem mit diesen Forderungen ist, dass sie zwischen formaler Leere und unmöglicher Radikalität changieren. Nehmen wir das Recht auf globale Bürgerschaft: Dem kann man, im Prinzip, nur zustimmen – dennoch: wenn diese Forderung mehr sein soll als eine feierliche formale Erklärung im üblichen UN-Stil, wenn man sie ernst nehmen soll, würde das die totale "Zertrümmerung" bedeuten, von der Durchsetzung globaler Gesetze bis zur Abschaffung der Staatsgrenzen. Bei den gegenwärtigen Bedingungen würden solche Maßnahmen zu einer Invasion der USA und Westeuropas durch Millionen billiger Arbeitskräfte aus Indien, China, Afrika führen und einen Volksaufstand gegen Immigranten auslösen, angesichts dessen Haider als Vorbild multikultureller Toleranz erscheinen würde. Das Gleiche gilt für die übrigen beiden Forderungen: das universale Recht auf ein soziales Einkommen – natürlich, warum nicht, aber wie soll man die sozioökonomischen Bedingungen für seine Umsetzung schaffen? Diese Vorwürfe betreffen nicht nur die sekundären empirischen Details. Das grundsätzliche Problem mit "Empire" besteht darin, dass das Buch viel zu kurz greift in seiner fundamentalen Analyse, wie – wenn überhaupt – der heutige globale sozioökonomische Prozess den Raum schafft für so radikale Maßnahmen – in der Art, wie Marx zu entwickeln versuchte, wie eine proletarische Revolution den grundsätzlichen Antagonismus der kapitalistischen Produktionsweise beseitigen würde. Genau darin bleibt "Empire" ein vor-marxistisches Buch. ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org