________________________________________________________________________________ Jungle World 12/2000 Hear us rumble! Ein Jahr lang sendete der Berliner Piratensender Twen FM Clubmusik und Obskures zwischen Punk und Rock. Jetzt ist vorläufig Sendepause. von mc looney tunes Februar 1999 »Hey, Ladys, my Mercedes!« C. und ich sitzen zusammen mit W. in seinem Benz, Baujahr '84. Berlin ist verregnet, verdammter Winter, kann denn nicht irgendjemand die Hausnummer erkennen? Im Fond sitzen und warten außer C.: zwei gepackte Platten-Taschen und drei Dosen Bier. Was, da? Nein, hier! Hm, parken. Klingel drücken. »Hallo, ihr müsst nach ganz oben!« O no. Das ganze Haus ist mit grauer Plane eingepackt. Bauschutt knirscht unter den Sneakers, vier Stockwerke hoch. Krrsch krrsch. Wir treten ein in Twen FMs erstes Sendestudio: Eine toprenovierte Ein-Zimmer-Wohnung, ein Prototyp von Berlins Neuer Mitte, mit großem Bett und kleiner Küche. Sie gehört M., der Freundin von S., der den Sender ins Leben gerufen hat. Auf dem Computertisch stehen Plattenspieler, ein Mischpult und daneben: der Sender. Er sieht aus wie ein alter Verstärker mit abgenommener Schädeldecke, Twen FMs Mastermind sieht verdammt schrappelig aus. Aber - it's magic! - er sendet! W. und C. packen ihre Platten und ich mein Mikro aus. Die Beats werden hochgedreht, und ich fange an: »This is Twen FM 95 point one, DJ radio for the millennium! Ihr hört on bass tracks, ab jetzt immer donnerstags von 22 bis 0 Uhr, yeah!« Radiosendung-Machen fühlt sich komisch an. S. raucht am Küchentisch, M. telefoniert und zeigt C. ihr Bewerbungs-Tape für die Filmhochschule. Thema: »Breaking the Rules«. März 1999 Dritte Sendung. Wir haben DJ A. eingeladen. Uneingeladen bringt er MC Wh. mit. Diese Show soll Chefsache sein. Nach einem exakt gezirkelten Set checkt man rum mit S., sie wollen eine eigene Sendung am Start haben. Kurze Verhandlung. Wann, was, wie, okay, geht klar. Jetzt möchte jeder einen Sendeplatz haben. Drum'n'Bass rules. Kleine Zettel gehen rum, auf denen man die gewünschte Zeit und den Musik-Style eintragen kann. In M.s Wohnung hängen nun jeden Abend von 20 bis 0 Uhr eine Menge Homies ab, verschütten Bier und verteilen Krümel im Bett. Die Wohnung wird langsam zu klein. April 1999 Die erste richtige Location ist gefunden und bezogen! »Viel besser als bei der alten«, sagt DJ A. In der leer geräumten Wohnung kann sich endlich jeder an der Wand verewigen. Schnell ist die ganze Wand voller Tags. Selbst die Tür mit dem aus den Achtzigern stammenden knallroten Mund auf blauem Grund wird überkritzelt. Das Programm ist fast voll, die Reichweite des Senders aber noch gering. Wir haben einen Gast in jeder Sendung, meistens Drum'n'Bass, diesmal aber Dancehall, DJ B. Er hat Prominenz mitgebracht: Gentleman am Mikrofon! Seine Augen sind nur noch Schlitze, aber sehen muss er ja auch nichts. Wir sind alle total gut gelaunt. Manche Abende im Sender haben diesen Zauber, dem man sich nicht entziehen kann. Ich überlege, warum das so ist: Es gibt bei Twen FM keine festgelegte Form, kein Sendeformat, und nur so kann es auch Überraschungen geben. Wie die Sendung wird, und wer dann vorbeikommt, ist uns vorher nie ganz klar. Ein TV-Team fragt später, ob uns die Illegalität kickt. Keiner will das bestätigen, Illegalität ist Mittel zum Zweck, kein Statement an sich. Plötzlich ist alles dunkel! Alle stürmen an die Fenster. Drei Stockwerke unter uns leuchten ein paar Polizisten den Hof aus. Was gibt es wohl in den Ecken eines verdreckten Berliner Hinterhofes zu sehen, das für einen Polizisten interessant sein könnte? Ratlose, gespannte Stille. Nur DJ B.s letzter Tune flüstert Jamaika in den Senderaum. Polizistenkörper schleppen sich zwei, verdammt, drei Stockwerke hoch. Oha. Die Tür wird aufgestoßen. »Sind Sie das hier mit der Lautstärke?« wird geschnauzt. Wir sind geschockt, fühlen uns völlig unschuldig. Bevor wir noch richtig abstreiten können, wird das ganze Equipment von den Jungs eingepackt, einer deutet auf den Sender. Was das denn sei? »Keine Ahnung«, S. zieht die Schultern hoch, »hat keine Funktion.« Sie haben es geschluckt. Unglaublich. Yeah. Alles wird abtransportiert. Nur der Sender nicht. Haha! Nach einem kurzen Freudentaumel wird es still. Zwei Plattenspieler und ein Mischpult - futsch. Mai 1999, erste Hälfte Irgendwie ist es S. gelungen, neues Equipment aufzutreiben, aber zwei Wochen später ist auch das weg. Irgendjemand, es wird gemunkelt: die Post, hat über Nacht alles ausgeräumt. Und zwar alles! Demotivation macht sich breit. DJ A. merkt an, dass ihm das Ganze jetzt »zu heiß« wird. Mai 1999, zweite Hälfte C. hat einen der Plattenspieler, die bei der Ruhestörungsaktion konfisziert wurden, ausgelöst. Hat sich einen kurzen Rock angezogen und die Bullen angeklimpert. Blinzelblinzel, das ist mein Plattenspieler, blinzelblinzel, hier ist die Quittung, blinzelblinzel, und ich brauche ihn un-be-dingt zurück. Nuschelnuschel, da machen wir mal ausnahmsweise ... eine Ausnahme nuschelnuschel, na, weil sie es sind, nuschelnuschel, lechz, ihre schlanken Finger müssen ja beweglich bleiben. Ja, und jetzt steht er in der neuen Location. Die ist zwar abenteuerlich und lässt sich auch nicht abschließen. Ein winziges Zimmer auf einem unbeheizten Dachboden. Die einzige Sitzgelegenheit ist ein versifftes altes Surfbrett, auf dem jeder, der zum ersten Mal da ist, festklebt. Na, wenigstens ist es nah an der Antenne. Es ist immer noch kein zweiter Technics MK am Start, also landet C.s dort. S.s größtes Talent zweifelsohne: Leuten ihr Eigentum abschwatzen. Ohne das, und ohne die Gutmütigkeit seiner Opfer, gäbe es den Sender gar nicht. Juni/Juli 1999 Schon wieder ist etwas geklaut worden: C.s Plattenspieler. Und nur der. Er war irgendwo auf dem Dachboden versteckt, in einer Mulde mit einer Decke zugedeckt oder so. Der andere war nur ausgeliehen und wurde von der Besitzerin wieder abgeholt. Twen FM braucht Geld, ist reif für eine Benefizparty. Es gibt nicht nur eine, es gibt viele in diesem Sommer. Nur, viel Geld kommt nicht rum dabei. Irgendetwas läuft immer schief. Bei der ersten Party fressen die Personalkosten des Clubs den Gewinn, bei der zweiten reichen die Moneten gerade mal für die Schulden (es kommt raus, dass so einiges auf Pump gekauft wurde), aber die dritte soll jetzt endlich Gewinn bringen! D. D., Künstler und Twen-FM-Sponsor, hat eine Ausstellungseröffnung und veranstaltet die anschließende Party zu Gunsten des Senders. Zum Geld-Verdienen hätte man den Ort nicht besser aussuchen können: ein Dachgarten mit Blick auf die Museumsinsel, very chic & exclusive, very Speed Garage. Es ist schon sehr früh sehr voll, genauso wie wir und alle anderen auch. An der Bar muss man ewig anstehen, und in den Ecken hört man Nasenschniefen. Wer nicht gerade auflegt, tanzt oder kichert selig vor sich hin. Am Ende des Abends bekommt Twen-FM-Macher S. von D. D. eine Menge Schotter und verschwindet daraufhin ganz plötzlich. In den nächsten Tagen ist er nicht zu erreichen, keiner weiß, wo er ist. Bis ein noch immer vom Wochenende betrunkener Freund von ihm plaudert und bei uns für Ernüchterung sorgt: S. veranstaltet gerade seine ganz private Benefizparty: auf Sizilien! August/September 1999 Die Organisation wird immer schlampiger. Schlüssel verschwinden, Leute werden nicht benachrichtigt, wenn ihre Sendung ausfällt. S. ist kaum noch da, alle bekannteren DJs der Stadt haben sich schon abgeseilt, Twen FM ist ein sinkendes Schiff, doch halt: Es naht Rettung! Dr. Disco, ein sehr ruhiger, freundlicher, relativ zuverlässiger und immer Gras rauchender junger Mann übernimmt die Führung. Er trägt eine Skijacke und spielt als DJ alles »von Achtziger bis Funk«. Er passt auf, dass nichts geklaut wird, ist eigentlich immer da. Einmal komme ich mit W. vorbei, weil wir eine Party durchsagen wollen. Der Raum ist voll mit total dichtgekifften, aggressiven Mitte-HipHop-Homies. Dr. Disco steht mitten im Raum, von der Atmosphäre unbeeinflusst, lächelt entrückt. Oktober 1999 Twen-FM-Treffen. Es wird klar: Mit Dr. Disco ist die Gitarren-Fraktion größer geworden. Wir befinden uns in der Sendung von Klaas, den habe ich noch nie gesehen, und die meisten anderen, die hier rumschwirren, auch nicht. Der Sound ist nicht so richtig einzuordnen für mich, ich sage mal: alles, außer elektronischer Musik. Ich finde, die machen sich hier unerhört dick, Dr. Discos neuer Assistent fragt: »Und wer bist du?« November 1999 Donnerstag, »on bass tracks»-Sendung. In letzter Zeit haben C. und ich öfter mal blau gemacht, zum Glück hat W. die Stellung gehalten. Heute sind wir alle wieder dabei, als Gast legt DJ Basti Z HipHop auf, mit »endlosen MCs« im Schlepptau. C. brettert als erste fette Drum'n'Bass-Beats rein, die HipHopper fläzen sich auf dem Sofa und nicken mit dem Kopf. Erst einmal einen zwirbeln. Ich schnappe mir das Mikro: »Sneak through the streets like on paws through the jungle, prick up your ears to 'on bass tracks', hear us rumble!« Nach einer Dreiviertelstunde ist W. dran und lässt sweeten UK-Underground durch den Raum säuseln, mixt noch kurz ein sexy Vocal rein, nein, das waren C. und ich! Wir hauchen mit, haha! So, jetzt werden die MCs langsam ungeduldig. DJ Basti Z drängt an die Plattenteller. Die Jungs stellen sich in einen losen Kreis und lassen das Mikro rumgehen. MC Yaneq: »Ich cypher endlos wie Brockhaus, sag', was los is, ich lock's raus, Twen FM flow shit!« Eine halbe Stunde geht schnell rum, die Typen, die nach uns Sendung haben, sind sowieso schon länger nicht mehr da gewesen, und so machen wir locker bis eins durch. Supersendung! Der einzige Wermutstropfen: Wer zuletzt da ist, muss den Sender wegschleppen. Dezember 1999 Die Steppaz Convention vom »Maria« hat Besuch aus England. DJ Skynet und DJ Stakka, dazu noch zwei MCs von Rude FM, einem Piratensender aus London. Ich rufe MC Tweed an, der samstags von 15 bis 20 Uhr Sendung macht, und frage ihn, ob er noch Platz für ein paar Gäste hat. Er hat. Nur: Wir warten und warten und keiner kommt. Es ist schon halb acht durch und die Leute von der nächsten Sendung, »Musique ˆ la carte«, stehen in den Startlöchern, inklusive Girls. Ich frage mich, wo sie die immer herbekommen. Sagen die denen: »Hey, ich mache eine Sendung auf'm Piratensender, wollt ihr gleich mitkommen?« Oder was? Naja, wir halten sie hin, so richtig glücklich sehen sie damit nicht aus, und pünktlich zum Sendeschluss kommen DJ Stakka, MC Jeppa Dee und MC Irie. Sie legen los, haben superfette Dubplates am Start, the MCs are faster than Speedy Gonzales! Die Jungs von der nächsten Sendung haben jetzt doch gar nichts dagegen, dass wir die Zeit überziehen, und eigentlich sind sie auch in Ordnung. März 2000 Dr. Disco ist in Brasilien verschollen! Also hat S. wieder übernommen. Ein Peilwagen wird gesichtet und ein Ortswechsel steht an. Diesmal geht es ab in den Keller. Der Sendeplan wird neu festgelegt, alles scheint organisierter, einen Schritt weiter. Bei den obligatorischen Kartenverlosungen rufen endlich Leute an, die Presse und die Partys haben den Sender so bekannt gemacht, dass wir in Clubs von Hörern auf das Programm angesprochen werden. Leider: Polizei und Post haben das auch alles verfolgt. Die Hoffnung, dass ein unpolitisches Clubradio geduldet wird, hat sich nicht erfüllt. Am Samstag, den 4. März, höre ich erste Gerüchte auf einer Party, MC Tweed raunt mir zu: »Der Sender is hops jejangen!« Am Sonntag telefoniere ich mit MC Yaneq: »Ich wollte gerade oben einen anrollen, da sehe ich drei Wannen und so einen technischen Truck rumstehen. Ich höre die Bullen sagen: 'Ich glaube, wir haben ihn!' und schon kommen sie reingestürmt. Unten waren ungefähr 15 Leute, DJs, MCs.« MC Tweed: »Oben hörtest de Stiefel rennen, und zwar en masse, und auf einmal guckt mich ne Taschenlampe an: 'Allet liegenlassen, rauskommen, Raum verlassen!'« Am 3. März, gegen 20 Uhr, stürmten drei Zehnermannschaften den Sender, demolieren Inventar, beschlagnahmen alle technischen Gegenstände und lassen 15 Kulturschaffende bis zu drei Stunden per Adler an der Wand stehen. DJ Hek 187: »Alle wurden durchsucht und müssen unterschreiben: 'Untersuchung wegen Betreiben einer unerlaubten Sendeanlage / Beweismittel', und dann: 'ohne Erfolg' ist angestrichen, puh!« Vorläufige Bilanz: Sendepause. Twen FM sendet am 1. April legal im Internet unterwww.twenfm.deund jede Nacht von 0 bis 2 Uhr mit Live-Chat, Video und Audio auf dem Offenen Kanal Berlin http://www.jungle-world.com/_2000/12/32a.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org