________________________________________________________________________________ Jungle World 10/2000 Haiders Schüssel-Figur Wolfgang Schüssel ein schlampiges Verhältnis zur politischen Moral vorzuwerfen wäre ungerecht. Denn er weiß gar nicht, was das ist. von martin schwarz, wien Ein bisschen eigenartig dünkte es den neu angelobten Regierungsmitgliedern schon, als sie wegen der Proteste vor der Präsidentenkanzlei einen unterirdischen Gang zum knapp 30 Meter entfernten Bundeskanzleramt nehmen mussten. Der neue ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Bartenstein bedauerte, es sei »traurig, weil ein solcher Tag eigentlich etwas Schönes« sei. Bloß einer blieb seltsam unberührt: Der neue österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ging Anfang Februar forschen Schrittes voran in den Wiener Untergrund, um zu seinem neuen Arbeitsplatz zu gelangen. Auch während der Angelobung selbst verhielt sich Schüssel anders als die Mitglieder seines neuen Kabinetts: Während die Gesichter der Minister ernst waren und damit auf die demonstrative Distanz von Bundespräsident Thomas Klestil reagierten, lächelte Schüssel verschmitzt. Solche klimatischen Widrigkeiten nämlich können dem ÖVP-Chef schon lange nichts mehr anhaben. Seit bald einem Monat ist er am Ziel seiner Träume: Er ist Bundeskanzler. Dies zu werden, dafür hatte der »kleine Schwarze«, wie er in Österreich spöttisch genannt wird, mit dem unvergleichlich peinlichen Mascherl lange gekämpft. Seiner Ansicht nach viel zu lange. Schon 1968 begann der im Juni 1945 geborene Schüssel als Parlamentssekretär des ÖVP-Klubs im Hohen Haus und ist damit der längstgediente Politfunktionär Österreichs. Schüssel verfiel dem karrieremäßigen Tunnelblick schon sehr früh. Er hat niemals außerhalb der Politik gearbeitet und ist daher in die Übungen zur Machterringung eingebunden wie kaum ein anderer. Auch als Generalsekretär des schwarzen Wirtschaftsbundes zwischen 1975 und 1991 lebte Schüssel vor, wie eine Partei in politischen Gremien ihre Macht behält. Abgeordneter des Nationalrates schließlich ist Schüssel schon seit 1979. 1991 wurde er Wirtschaftsminister, 1995 dann ÖVP-Chef, Vizekanzler und Außenminister. Sein Moralverständnis ist daher ein anderes als jenes vieler politischer Quereinsteiger: Schüssel hat sein gesamtes Leben der Partei verschrieben, und die substituiert das, was für andere Menschen ein Wertekatalog ist. Daher wäre es ungerecht, dem neuen Bundeskanzler ein schlampiges Verhältnis zur Moral vorzuwerfen. Denn politische Moral interessiert ihn nicht. Mit dieser persönlichen Prägung ist auch Schüssels Rückgratlosigkeit in politischen Angelegenheiten zu erklären. Zwischen Oktober 1999 und Januar 2000 schaffte es Schüssel, seine Partei mehrmals zu wenden: Sollte die ÖVP Dritte werden, würde sie in die Opposition gehen, drohte er schon vor den Nationalratswahlen. Als die ÖVP tatsächlich nur drittstärkste Kraft in Österreich wurde, hielt das Oppositionsversprechen nur knappe zwei Monate. Anfang Dezember schließlich schien die ÖVP zur üblichen Koalition mit den Sozialdemokraten entschlossen, wiederum knappe zwei Monate später stand der Pakt mit der FPÖ. Ein hoher ÖVP-Funktionär drückt es im Wiener Nachrichtenmagazin Profil so aus: »Schüssel ist nicht mehr zurechnungsfähig.« Aber das war er noch nie, denn er hat die Arroganz der Macht verinnerlicht wie kaum ein anderer. Dabei agiert er geschickter als sein neuer Duz-Freund Jörg Haider (der ihn »Wolfi« nennt). Und der Innsbrucker Politologe Anton Pelinka meint: »Schüssel riskiert in einer egomanischen Übersteigerung einen massiven Konflikt mit der westlichen Welt.« Es wäre nicht das erste - wenn auch das am schwersten wiegende - Hazard-Spiel des begeisterten Volkslied-Sängers, Tennisspielers und Skiläufers. Schon im Spätherbst 1995 ließ Wolfgang Schüssel die damalige Koalition mit den Sozialdemokraten platzen und zettelte Neuwahlen an. Doch Kanzler wurde er nicht: Die ÖVP erhielt nur knapp 28 Prozent der Stimmen, dafür legten die Sozialdemokraten zu und konnten 39 Prozent der Wählerstimmen verbuchen. Am Wahlabend 1995, als die Niederlage der ÖVP schon abzusehen war, begann schließlich auch der rasante Niedergang eines für jeden Politiker wichtigen Verhältnisses: jenes zu den Medien. Wortlos betrat Schüssel die Parteizentrale der ÖVP und boxte sich voller Zorn durch die Journalisten. Für den Rest des Abends verschwand der gescheiterte Kanzlerkandidat in seinem Büro und ward nicht mehr gesehen. Einen Tiefpunkt in der Beziehung zwischen Schüssel und der österreichischen Presse schließlich markierte der Juli 1997 mit der so genannten Amsterdamer Frühstücksaffäre. Während eines Pressefrühstücks am Rande des Amsterdamer EU-Gipfels bezeichnete der damalige österreichische Außenminister den Präsidenten der deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, als »richtige Sau«, einen schwedischen Minister qualifizierte er als »Trottel« ab, einen Außenminister aus Afrika identifizierte er als »Bloßfüßigen« und den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko nannte er einen »Kümmeltürk«. Jeder andere Außenminister wäre nach solchen Aussagen untragbar. Wolfgang Schüssel dagegen schützt beharrliche Realitätsverweigerung vor dem Absturz ins politische Nichts. Er flog damals nach Frankfurt, schüttelte Tietmeyer versöhnlich die Hand und tat so, als wäre nichts geschehen. Doch es war etwas geschehen: Weil Schüssel in einer ersten Reaktion gleich einmal Österreichs Medien verklagen wollte, gingen ihm die letzten Freunde in den Redaktionen verloren. Seitdem zeigt Schüssel seine Arroganz gegenüber den Medien noch ungezügelter. Doch selbst das konnte Schüssel nicht von seiner Gruselfahrt zur Macht abhalten, die er schon im April 1995 angekündigt hatte. Als er damals Nachfolger des ÖVP-Chefs Erhard Busek wurde, sagte er in seiner ersten Rede: »Ich will Kanzler werden.« Sein langer Slalom durch die österreichischen Institutionen ist beendet. http://www.jungle-world.com/_2000/10/21b.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org